Entschleunigung

Ein längerer Artikel in der Wochenendausgabe unserer Zeitung: Es wurde ein universeller Mensch vorgestellt, Arzt, Naturliebhaber und Künster. Es war ein Artikel, den ich normalerweise nicht beachtet hätte, aber da war ein Bild, das ich einfach nicht einordnen konnte. Auf dem Rasen standen einige Rohre, die an verschiedenen Stellen rechtwinklig abgebogen und ineinander verflochten waren, ohne dass sie sich gegenseitig berührten. Was sollte das? Offensichtlich handelte es sich um ein Kunstwerk, aber da ich mit Kunst nicht allzuviel am Hut habe, sagte mir die Plastik nichts. [1]

Bis ich im Text den Titel für das Gebilde fand: „Entschleunigung“, und da machte es ganz plötzlich „klick“ bei mir. Entschleunigung als Umweg, als Knick, als Richtungsänderung, als Abweichen vom heute allzu verbreiteten Straightforward. Die verwinkelten Wege des Lebens nicht als Zeitverschwendung sehen, sondern als Chance zur Besinnung, zur Überprüfung, zur Erholung, zur Korrektur, zur Neugliederung.

Gerade heute, wo allgemein nur „Tempo, Tempo, Tempo!“ geschrieen wird, wo Digitalisierung eine immer höhere Schlagzahl bewirkt, da ist Entschleunigung wichtiger denn je. Man braucht die Dinge nicht alle aufzuzählen, die mangels Reflexion und kritischem Abstand total falsch gelaufen sind, weil sie mangels Stopp-Phasen eine unbremsbare Eigendynamik entwickelt haben. Jeder kennt die Fehlentwicklungen inzwischen, aber keiner ist bereit, einfach mal eine Pause einzulegen, sich mal umzuschauen und neu zu orientieren. Straightforward!

Dabei haben wir in der Natur ein eindringliches Beispiel, das uns zeigt, wie wichtig die Umwege sind. Jahrzehntelang haben wir den Flüssen ein Straightforward aufgezwungen, sie gnadenlos begradigt. Dadurch wird nicht nur das Leben in den Flüssen agewürgt, sondern die Flüsse schlagen in Störfällen wie bei Hochwasser zurück. Die Natur verträgt einfach nicht den direkten, kürzesten Weg. Auch wir Menschen sind Bestandteil der Natur, Digitalisierung hin, Digitalisierung her.

Selbst die technisch-wirtschaftlichen Prozesse brauchen Entschleunigung. Teilweise gibt es Zwangspausen, z.B. wenn nach einer Wachstumsphase eine rezessive Phase folgt. Eine Rezession ist kein Weltuntergang, sie ist vielmehr ein ganz natürliches Korrektiv in einem komplexen, exponentiellen Prozess. Das Problem ist ja auch nicht die Rezession an sich, sondern die Unfähgigkeit der auf Tempo getrimmten Menschen, vernünftig damit umzugehen. „Stillstand bedeutet Rückschritt“ äußerte mal ein Manager eines gößeren Konzerns. Typische Haltung eines erfolgsorientierten Managements, und doch so kurzsichtig – und grundfalsch.

[1] Ich hätte gerne das Bild von der Rohrplastik hier vorgestellt, aber zum einen ist die Veröffentlichung von Fotos, die andere aufgenommen haben, grundsätzlich nicht erlaubt; zum anderen befindet sich die Zeitung bereits im Papiercontainer.