Smarte Kinderwelt

„Ein Land, das bei der Digitalisierung nicht vorne mitmischt, wird in die Bedeutungslosigkeit versinken. Und Firmen, die nicht ganz schnell auf den Digitalisierungszug aufspringen, werden bald keine Chancen mehr haben!“ So oder ähnlich klingen die Mahnungen aus Politik und Wirtschaft.

In der Tat, Digitalisierung ist alles. Digitalisierung ist Aufgeschlossenheit und Fortschritt; Digitalisierung ist Glaube und Hoffnung; Digitalisierung bedeutet Gewinn und Macht; Digitalisierung ist Zukunft und Perfektion; Digitalisierung bedeutet Gesundheit und Wohlbefinden. Diesen Eindruck erhält man, wenn man den Sachkundigen in Politik und Wirtschaft zuhört.

Und so grübeln die Verantwortlichen in den Betrieben und an den Schalthebeln der Wirtschaft, was alles digitalisiert werden kann. Ja, es ist eine ganze Menge, und immer mehr Ideen zur Digitalisierung erhält man, wenn man erst mal zu Gange ist oder einfach mal umherschaut. Da kann es nicht verwundern, dass die Produkte für Kinder in den Fokus der digitalen Brille geraten. Hören wir mal dem Geschäftsführer des Bundesverbands  des Spielwaren-Einzelhandels, Steffen Kahnt, zu. Oder dem Vorstand des Bundesverbands Deutscher Kinderausstattungs-Hersteller, Michael Neumann. Toll, was die Digitalisierung auf diesem Sektor hervorbringt.

Zum Beispiel die smarten Kindersitze. Wenn die Kinder versehentlich im Auto zurückbleiben, gibt es ein Signal auf dem Smartphone. Man stelle sich die Situation mal vor: Mama und Papa gehen einkaufen und genehmigen sich einen Kaffee im Stehcafé. Da fällt dem Papa etwas siedenheiß auf die Seele: „Du, Lara, schalt doch mal dein Smartphone ein. Es könnte sein, dass wir unsere Deborah im Auto vergessen haben.“ Tja, ein Segen, dass es die smarten Sicherheitsmaßnahmen gibt, kann man da nur feststellen. Man kann ja nicht an alles denken, oder?

Ein anderer Segen, den die smarten Kindersitze bieten, ist die Benachrichtigung, wenn der Sitz nicht richtig montiert wurde. Da sind Mama und Papa also unterwegs zum Urlaubsort, und auf der Autobahn, als die kleine Deb endlich eingeschlafen ist, greift Mama auf dem Beifahrersitz zum Smartphone – und erschrickt. „Du, Tim, fahr mal den nächsten Parkplatz an. Der Kindersitz ist nicht richtig montiert, irgendeine Schnalle sitzt wohl nicht richtig.“ Papa schaut auf den Navi: „Ja, noch 20 km bis zum Parkplatz.“

Klar, wenn es um die Sicherheit von Kindern geht, darf es keine Nachlässigkeit geben. Sicher, wenn schon Elektronik im Kindersitz, dann hätte auch eine einfach Kontrolllampe am Gestell gereicht. Dann wär man gar nicht erst mit falsch montiertem Sitz losgefahren, und es wäre keine Meldung ins Netz gerauscht, dass Papa Tim zu blöd oder zu oberflächlich ist, einen Kindersitz richtig anzubringen. Andere Alternative: Der Hersteller macht die Montage so einfach und narrensicher, dass sich eine elektronische Kontrolle erübrigt. Doch beide Alternativen haben einen gravierenden Nachteil: Sie sind nicht zeitgemäß.

Michael Neumann bringt noch einen weiteren Pluspunkt smarter Kindertechnik ins Gespräch, nämlich die „volle Überwachung des Babys in Bezug auf Puls, Herzschlag, Temperatur“. Das alles sei schon möglich und werde sicherlich die nächsten Jahre Einzug in den Massenmarkt erhalten. – Wenn das kein Grund für die Gesellschaft ist, so richtig aufzuatmen. Wir alle wissen doch, wie extrem wichtig es ist, möglichst umfassende Personenprofile zu haben. Versicherungen, die Polizei, die Werbewirtschaft, Krankenkassen, die Personalabteilungen in den Betrieben, alle profitieren davon. Das Gesundheitsprofil ist ein wesentlicher Bestandteil des Personenprofils, denn es erlaubt Rückschlüsse auf die Brauchbarkeit von Menschenmaterial und bietet der Gesellschaft die Chance, unbrauchbares Materiel auszusortieren. Nun kann also eine wesentliche Lücke im Gesundheitsprofil geschlossen werden, und zwar durch datenmäßige Erfassung frühkindlicher Gesundheitsmerkmale. Gerade Kinderdaten sind so wichtig, dass wir sie nicht einfach liegenlassen dürfen. Wenn das kein Fortschritt ist …

Nun könnte es ja ignorante Zeitgenossen geben, die nüchtern feststellen, dass das alles nicht nur Scheiße ist und gehörig stinkt, sondern darüber hinaus sogar gefährlich für die Entwicklung der Gesellschaft. Dieselben Zeitgenossen könnten könnten den Machern von smartem Kindermaterial zugestehen, dass diese ihr Zeug ebenfalls als Mist einstufen, denn sie sind ja nicht dumm oder total naiv. Was also bewegt die Leute, trotzdem so einen Kram zu produzieren?

Die Antwort geben wieder Branchenvertreter. Die Eltern seien bereit, für die Ausstattung ihrer Kleinen sehr viel Geld auszugeben. Im vergangenen Jahr seien es durchschnittlich 750 Euro gewesen. Na also, kann man da nur sagen, bei soviel Freigiebigkeit wäre man ja bescheuert, wenn man sie nicht zum Gewinn der Branche nutzen würde. Letzten Endes geht es auch bei smarten Wohltaten ums Geld. Eigentlich nur ums Geld, alles andere ist nur vorgeschoben.