Orientierungslosigkeit

Digitalisierung! Nie in der Menschheitsgeschichte hat es eine Entwicklung gegeben, die derartig expolosiv und gleichermaßen ungesteuert das Leben umkrempelte. Alle rufen nach Digitalisierung und laufen blindlings hinterher, einige mit sichtbaren Anzeichen von Verzückung. Große Ziele und beglückende Zukunftsaussichten werden an die Wand gemalt, und die Menschen werden mit dem Versprechen von Komfort und Bequemlichkeit angelockt. Sie folgen, wie die Ratten in Hameln dem Rattenfänger; der smarte Gesang zieht sie in ihren Bann. Wohin es genau geht, weiß niemand von ihnen.

Das wissen nicht mal die meisten der Rattenfänger. Am Wegrand sind verstörende Zeichen zu sehen, aber sie schauen nur nach vorne und hasten weiter voran. Die Digitalisierung ist längst zu einem Wettlauf zwischen Systemen und Nationen geworden, und ja, vieles wird in dem gelobten, digitalen Zukunftsland anders sein. Schlechter? Aber nicht doch, einfach nur anders, betont man. Verlust von Intimsphäre? Ja, sicher, aber mal ehrlich: Wozu brauchen wir die noch in der Zukunft? Nachdenken? Das überlassen wir viel besser der künstlichen Intelligenz, oder? Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen? Wozu noch, wenn digitale Kontrollen alles genau regeln? Mit Hassbotschaften und Lügen um sich spritzen? Ja, ist nicht schön, aber irgendwie wird es schon gelingen, das ein wenig einzudämmen. Zumindest die schlimmsten Folgen der digital angeheizten Verrohung sollten nach Möglichkeit unterbunden werden. Aber wie? Keine Ahnung, aber ist Verrohung nicht relativ, ist der Rückfall in analoge Strukturen nicht wesentlich schlimmer?

Und so irrt man umher. Man weiß nicht, wohin man gehen soll, ja nicht einmal, wohin man gehen will. Nur diejenigen, die aus dem komplexen Gefüge ein begrenztes Ziel herauslösen und alles andere beiseite schieben, gehen zielstrebig voran. Facebook zum Beispiel hat das Ziel, möglichst viel Geld zu machen und Macht zu gewinnen, nur dieses. Die exportorientierte Wirtschaft hat das Ziel, im globalen Wettbewerb an vorderster Stelle mitzumischen, nur dieses. Die satten, vollgefressenen Bürger haben das Ziel, mitzuhelfen, dass sie nicht mehr denken und ihre Ärsche hochkriegen müssen. Alles andere einfach nicht beachten. Und all diese Scheuklappenziele werden trefflich von der Digitalisierung bedient.

Und doch gibt es ein Unbehagen, denn bei allem technischen Fortschritt spürt man, dass alles, was das Leben im Kern ausmacht, nicht digital ist. Man spürt, dass entscheidende, zeitlos gültige Werte nicht digital geschützt werden können, sondern dass sie – im Gegenteil – von der Digitalisierung bedroht werden, dass die Digitalisierung kanalisiert werden muss. Aber wie? Hier mal „du, du!“ machen, dort (wieder) mal sagen: „Nun ist aber Schluss!“, ja das bietet sich an. Ansonsten wird weiter herumgeirrt, hechelt man weiterhin auf verschwommene Ziele zu, faselt man von „digitalen Transformationen“ und ähnlichen Vorgängen, die nur deshalb in den Adelsstand erhoben werden, weil sie im Namen den Adelstitel „digital“ tragen.

Natürlich sind die Menschen nicht dumm (noch nicht, denn die Digitalisierung ist noch relativ jung), aber um Orientierung zu gewinnen, braucht man nicht nur Intelligenz, sondern auch Sachkenntnis. Kann jeder Politiker, der von „Digitalisierung“ quatscht, damit aufwarten? Nein? Sollte er aber, wenn er so etwas in sein Parteiprogramm schreibt. Bei den Medien (ich meine jetzt die seriösen) ist es nicht viel anders. Dazu ein Beispiel:

Diese Tage wurde im Fernsehen verkündet, dass die Digitalisierung wegen des hohen Energieverbrauchs ein Klimakiller sei. Was für eine Neuigkeit! Dabei konnte sich jeder denken, dass das Streamen von Medieninhalten oder das permanente Speichern von Daten enorme Energiemengen benötigt. Aber sei’s drum. Bemerkenswert ist ein Lösungsvorschlag, der in diesem Zusammenhang gebracht wurde: Man solle nachhaltiger mit Akkus umgehen. Man könne ja jeden Akku und jede Batterie mit einem digitalen Stempel versehen und so den Gang bis hin zur Entsorgung verfolgen. Falscher Umgang werde konsequent aufgedeckt und ggfs. sankioniert. Und als zuverlässige Technik biete sich dafür die Blockchain an.

Abgesehen davon, dass ein solche „Produktkontrolle“ ein widerlicher Eingriff in persönliche Bereiche wäre, ist die vorgeschlagene „Lösung“ auch kontraproduktiv, was Ressourcenschonung und Energieeinsparung betrifft. Die Blockchain überzeugt zwar, wenn es um dezentralen, sicheren und abhörgeschützten Informationsaustausch im Internet geht, ist aber andererseits ein ungeheurer Energiefresser. Jede kleinste Aktion wird ja dauerhaft auf etlichen Servern vorgehalten. Die Datenmenge schwillt dabei auf gigantische Ausmaße an, und es ist nicht so, dass nur der Datentransport (z.B. beim Streaming) Energie frisst, sondern auch die Speicherung.

In der Digitaltechnik und in der Vernetzung steckt ohne Frage ein beachtliches Potenzial, doch wenn man völlig orientierungslos herangeht und jedes digitale Pflänzchen verwerten will, dann darf man sich nicht wundern, wenn man auch mal die eine oder andere Giftpflanze schluckt. Nicht alles, was so schon blüht, ist genießbar.