Wolfskinder
vor kurzem (Februar 2017) besuchte ich die bekanne Ausstellung über die Wolfskinder in Litauen. Als die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges Ostpreußen erreichte, geriet die Zivilbevölkerung zwischen zwei Fronten. Die russischen Soldaten, noch ganz unter dem Eindruck der von den Deutschen verübten Kriegsverbrechen, gingen nicht zimperlich mit der deutschen Zivilbevölkerung um, Flucht war ebenfalls kaum möglich. In diesem furchtbaren Chaos verloren viele Kinder ihre Eltern, die die Kriegshandlungen, den Hunger, die Vergewaltigungen, die Misshandlungen, den Frost nicht überlebten. Viele kranke, hungrige, frierende, traumatisierte Kinder blieben zurück, verkrochen sich in den Wäldern und versuchten, irgendwie zu überleben. Das waren die Wolfskinder.
Viele von ihnen retteten sich nach Litauen, wo sie sich mit Betteln und Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten. Litauen wurde ihre neue Heimat, doch richtig heimisch wurden die meisten nicht. Viele heirateten später, wurden aber nicht selten, sofern sie Frauen waren, von ihren litauischen Ehemännern geschlagen und misshandelt. Zwar gewährten ihnen die Litauer Schutz und bewahrten sie vom Hungertod, doch wirklich angesehen waren die Wolfkinder nicht. Die meisten von ihnen hatten nie eine Schule besucht.
Das deutsche Kulturforum östliches Europa hat vor einigen Jahren begonnen, das Schicksal der überlebenden Wolfskinder zu dokumentieren und der Öffentlichkeit in Form einer Wanderausstellung zu präsentieren. Ebenso gibt es ein Buch mit dem Titel "Wolfskinder". Warum erwähne ich dieses, dazu noch im Bereich Fotografie meiner Internetseite? Ganz einfach, sowohl die Schilderungen der Betroffenen Wolfskinder, nun natürlich alte Menschen, vor allem aber auch die Bilder der Fotografin Claudia Heinermann, gehen unter die Haut. Ich habe selten so intensive Fotografien gesehen. Da gibt es die Aufnahmen von den Tiefen der Wälder. Keine schönen, erbaulichen Spazierwege, sondern endlose Wildnis, in die man nur wie ein wildes Tier, wie ein Wolf eintauchen kann. Da gibt es die Aufnahmen von den Wohnräumen, vornehmlich den Küchen, die deutlich machen, dass es den darin hausenden Menschen nur um eines gehen konnte: ums Überleben. Und dann gibt es die fast lebensgroßen Porträts der Wolfskinder, von jedem der alten Menschen genau eines. Zusammengefallene, geduckte Körper, die sich für die Fotografin schick gemacht hatten - so gut es überhaupt ging. Gesichter, in deren Falten und Narben das ganze erbärmliche Leben gezeichnet war, Augen, die zerbrochene, hoffnungslose Seelen widerspiegelten. Die Hoffnung dieser Menschen zerbrach Anfang 1945, und was bleibt von Menschen, denen man schon in Kindertagen die Hoffnung nimmt?
Doch zurück zur Frage, warum ich diese Bilder hier erwähne. Die Antwort ist einfach: Was Claudia Heinermann da zeigt, ist echte Fotografie. Hier dient Fotografie der Wahrheit, und obwohl ein Kameraobjektiv nur das unmittelbar Sichtbare aufnehmen kann, zeigen die Bilder die Wahrheit hinter der Oberfläche. Die Gesichter sind schweigsam, und doch lassen die Fotografien die Menschen sprechen. Sie würdigen das Leben der Menschen, indem die Kamera ihnen zuhört.
Welch ein krasser Unterschied zur heute ziemlich verbreiteten Auffassung, dass Abbildungen von Menschen vor allem schön sein müssen. Falten und Unebenheiten stören, sie werden erbarmungslos wegretuschiert. Es ist eine Fotografie, die Wahrheiten vertuschen will, die infolgedessen an der Oberfläche haften bleibt, die alles glatt bügelt, was das Leben gezeichnet hat; eine Fotografie, die aus Menschen Puppen macht, die wahrscheinlich nicht mal mehr weiß, dass Schhönheit von innen her kommt. Es ist eine Fotografie, die allerdings in die Zeit passt, die wie fast alles im Zuge der Digitalisierung von Oberflächlichkeit und Entmenschlichung gekennzeichnet ist.
Leider kann ich aus urheberrechtlichen Gründen kein Bild vorstellen, aber im Internet dürften dennoch einige Fotos der Wolfskinder aufzutreiben sein. Ein Besuch auf der Internetseite von Claudia Heinermann könnte ebenfalls interessant sein.