Privatsphäre ist eine tragende Säule, wenn es um bürgerliche Freiheit geht. Wenn wir von Unantastbarkeit der Menschenwürde sprechen, dann schließt das die Privatsphäre ein. Privatsphäre ist mehr als nur eine spanische Wand, hinter der wir uns verstecken können; sie ist vielmehr ein ganz wichtiger Schutz- , Freiheits- und Rückzugssraum, der umso mehr an Gewicht gewinnt, je stärker sich Leben und Beruf im öffentlichen Raum abpielen – abspielen müssen. Die Bedeutung der Privatsphäre wird auch deutlich, wenn wir uns einige daraus abgeleitete Rechte vor Augen führen, z.B. das Briefgeheimnis.
Seit einigen Jahren taucht in der Diskussion ein entgegengesetztes Prinzip auf, nämlich Transparenz. Es wird verlangt, dass Menschen ihre Absichten, Motivation oder Handlungen öffentlich machen und öffentlich begründen. Es geht also um Offenlegung, um dadurch Mauscheleien, konspirative Absprachen usw. so weit wie möglich einzuschränken. Das Internet, das als Medium ohnehin einen sehr hohen „Offenheitsfaktor“ (bis in exhibitionistische Größenordnungen) besitzt, begünstigt das Bewusstsein für Transparenz, und die Enthüllungsplattform Wikileaks ist nur eine logische Konsequenz aus dieser Entwicklung, um ein Beispiel zu nennen. Transparenz ist ein Prinzip von hoher demokratischer Relevanz.
Doch wie verträgt sich Transparenz mit Privatsphäre? Vor einigen Wochen (Mai 2014) las ich in der Welt einen aufschlussreichen Leitartikel. Leider konnte ich die Zeitung nur in einem Café lesen, und ich versäumte, mir diese Ausgabe anschließend zu besorgen, so dass ich mich hier nur unter Vorbehalt auf den Inhalt beziehen kann. Doch der Artikel war so aufschlussreich, dass ich trotz der Einschränkungen zumindest die Kernaussagen kurz anführen möchte.
Der Verfasser des Artikels ist Amerikaner, was dem Ganzen zusätzliche Würze verleiht. Er stellt fest, dass die Forderung nach Transparenz und das Recht auf Privatsphäre sich gegenseitig praktisch ausschließen. Dann betont er die Bedeutung von Transparenz und stellt die These auf, dass sie im Zweifelsfall absoluten Vorrang vor der Privatsphäre hat. Als Konsequenz fordert er einen anderen, offeneren Umgang mit Privatsphäre, quasi so etwas wie die Bereitschaft zur Auflösung des Privaten in großen Bereichen.
Es steht sicherlich außer Frage, dass die beiden Prizipien entgegengesetzte Auswirkungen haben. Doch im Zweifelsfall muss die Privatsphäre unbedingten Vorrang haben. Nicht umsonst steht der Schutz der Menschenwürde gleich im 1. Artikel unserer Verfassung. Die amerikanische Verfassung nennt in ihrer Präambel zwar auch das „Glück der Freiheit“, das es zu bewahren gilt, und die Förderung des allgemeinen Wohls, aber das ist allgemeiner formuliert, stärker auf die Gesellschaft als auf das Individuum bezogen. Vielleicht ergibt sich daraus ein etwas anders gelagertes Werteverständnis, und die Haltung des Leitartiklers wäre – wenistens teilweise – verständlicher. Aber wir leben in Deutschland, und unser Grundgesetz ist stark und um einiges aktueller als die amerikanische Verfassung, auf die sich immerhin so Gruppierungen wie die republikanische „Teaparty“ berufen.
Ein weiterer Kritikpunkt an der Haltung des Leitartiklers ist die Ausschließlichkeit, mit der er sich für die Transparenz entscheidet. Damit gibt er seinen Anschauungen einen fundamentalistischen Anstrich. Tatsache ist doch, dass es trotz aller Gegensätzlichkeit auch Raum für Kompromisse gibt. Es gibt Situationen, wo man die Transparenz zum Schutz der Privatsphäre einschränken sollte, ohne sie ganz aufzugeben. Und es gibt Bereiche, wo man auf einen Teil der Privatsphäre im Interesse der Offenlegung verzichten sollte.
Welches Recht nun überwiegt, hängt vor allem von der Bedeutung für die Öffentlichkeit ab. Private Sachverhalte, die für die Öffentlichkeit belanglos sind, müssen privat bleiben können, und zwar kompromisslos. Anders formuliert: Bei allem, was die Öffentlichkeit einen feuchten Kehrricht angeht, kann man nicht mit Transparenz argumentieren. Mehr noch: Hier sollte alles getan werden, um Versuche, die Dinge in die Öffentlichkeit zu rücken, schon im Keim zu ersticken. – Ganz anders aber, wenn ein sehr starkes, berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit an einer Person oder einem Sachverhalt besteht, z.B. weil die persönliche Haltung der/des Betroffenen allgemein aufschlussreich ist, dann tritt die Forderung nach Transparenz in den Vordergrund. Öffentlich wirksame Menschen wie z.B. Politiker müssen hier und dort schon mal Abstriche bezüglich ihrer Privatsphäre in Kauf nehmen.
Eines sollte jedoch völlig klar sein: Das Internet darf niemals als Argument für mehr Transparenz herhalten. Mit anderen Worten: Nur weil das Internet mehr Transparenz ermöglicht oder begünstigt, kann man daraus keine Forderung nach mehr Transparenz ableiten. Transparenz bezieht ihre Legitimation nicht aus einem Medium, sondern ausschließlich aus den Normen der Gesellschaft, und das Medium muss in diesem Sinne angewandt werden.
Ein letzter Kritikpunkt bezieht sich auf die Konsequenzen, die der Autor des Leitartikels zieht. Es kann und darf nicht sein, dass das Bewusstsein für Privatsphäre gezielt aufgegeben wird, weil Transparenz aus irgendwelchen Gründen an Bedeutung gewinnt. In einer Zeit, wo Wikileaks auf große Akzeptanz stößt und immer mehr Menschen sich öffentlich auf Facebook outen ist es wichtiger denn je, das Verlangen nach Privatsphäre zu erhalten und zu schärfen.