Schon seit Wochen protestieren viele Einwohner von Hongkong gegen den wachsenden Einfluss der Zentralregierung in Peking, was aus Sicht eines an Freiheit gewohnten, westlichen Bürgers durchaus verständlich ist. Freiheit ist ein Grundbedürfnis der Menschen, und ohne ein Mindestmaß an Freiheit können sie sich nicht entfalten und ihr Menschsein leben. Wie wichtig Freiheit für die menschlichen Gemeinschaften ist, zeigt ein Blick in die Geschichte. Um der Freiheit willen wurden Kriege geführt, vielleicht die einzigen berechtigten Kriege. Denken wir an die Befreigungskriege nach der napoleonischen Herrschaft in Europa, oder denken wir an den Sezessionskrieg in den Vereinigten Staaten, wo es um die Befreiung der Sklaven ging. Um der religiösen Freiheit willen wanderten viele Menschen aus Europa nach Amerika aus und nahmen lebensbedrohliche Strapazen in Kauf. Die Feiheitsstatue vor Manhattan soll daran erinnern, wofür die USA einmal standen. Es war das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse, die zu Revolutionen führte. Eugène Delacroix erhob in seinem Bild „Die Freiheit führt das Volk“ die Figur der Marianne zur Symbolfigur für den allgemeinen Freiheitsanspruch und das Auflehnen gegen Unterdrückung.
Das sind nur einige Beispiele dafür, wie wichtig Freiheit ist. Was Freiheit im tieferen Sinne bedeutet, und was die Ursachen für das Streben nach Freiheit sind, darüber will ich mich hier nicht auslassen. Das ist Sache von Psychologen, Soziologen und Philosophen. Hier nur soviel: Feiheit ist kein Ja oder Nein, sondern eine quantitative Angelegenheit. Niemand kann in der Gesellschaft völlig frei agieren, das würde umgehend in ein Chaos führen. Es kann also nur darum gehen, möglichst viel Freiheit für die Individuen zu sichern und die Freiheitsrechte gegen andere Anliegen aufzuwiegen. Wobei, das möchte ich in aller Deutlichkeit feststellen, die Freiheitsrechte einen hohen Stellenwert haben, viel höher als der von Sicherheit und extrem höher als der von Komfort und Bequemlichkeit.
Ein anderer Aspekt: Freiheit ist bis zu einem gewissen Grade eine individuelle Sache. Geistig und körperlich aktive Menschen beanspruchen einen größeren Freiheitsradius als inaktive oder geistig anspruchslose Menschen. Wobei man die Sache auch anders herum sehen kann: Mangel an Freiheit kann zu körperlicher Passivität und geistiger Austrocknung führen. Die individuell ausgeprägten Freiheitsansprüche bieten totalitären Systemen die Möglicheit, die Bürger mit Ersatzangeboten zu befriedigen, also Sicherheit, Bequemlichkeit, Wohlstand usw. China ist ein deutliches Beispiel für gelungene Freiheitsunterdrückung bei gleichzeitiger Grundzufriedenheit der Bürger.
Überhaupt ist die Situation in China in mancherlei Hinsicht aufschlussreich, wenn es um die Betrachtung von Freiheit geht. Man sagt, die Festlandchinesen seien mit ihrer Situation gar nicht so unzufrieden, weil sie – historisch gesehen – schon seit Generationen mehr oder weniger unfrei gelebt hätten. Die Bürger von Hongkong jedoch kennen Freiheit und empfinden den drohenden Mangel an Freiheit als Verlust. Auch über die Methoden zur Durchsetzung von Unfreiheit kann man am Beispiel China einiges erfahren. Natürlich geht es in erster Linie um Zwangsmaßnahmen und konsequente, mitunter drastische Sanktionen. Um hier wirkungsvoll agieren zu können, braucht der Staat das nötige Wissen über die Bürger. Also geht es auch um Überwachung. Andererseits lässt man den Bürgern dort eine wohldosierte Portion Freiheit, wo diese dem System nicht schaden kann. Damit die Bürger damit zufrieden sind, werden sie von allen Informationen abgeschnitten, die Begehrlichkeiten wecken könnten. Zwang, Strafe, Verdummung, harmlose Leckerli, damit lässt sich vieles umschreiben.
Und dennoch, so brutal uns Demokraten das autoritäre Vorgehen in China auch vorkommen mag: Die dort praktizierten Vorgänge rund um Freiheitsentzug sind nicht mal die schlimmsten, denn sie können Widerstand erzeugen, wenn die Abschottung von Informationen mal irgendwo aufbrechen sollte. Viel gefährlicher ist der Freiheitsentzug, der mit sanften, smarten Miteln erzeugt wird. Die Bürger wähnen sich frei, weil sie von der Überwachung und der aus dem Hintergrund erfolgenden Manipulation nichts mitbekommen. Sie zappeln wie Marionetten, sehen aber die Fäden nicht, an denen sie hängen.
Die schlimmste Form des sanften Freiheitsentzugs aber ist die, bei der die Menschen aus Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit auf ihren Freiraum verzichten. Diese freiwillige Entliberalisierung der Gesellschaft ist aus zwei Gründen fatal. Zum einen gibt es keine wirksame Möglichkeit, gegenzusteuern, denn es fehlt die entscheidende Triebkraft, nämlich das Verlangen nach Freiheit. Zum anderen ist dieser Verzicht ein alarmierendes Zeichen, dass die Gesellschaft bereits im Begriff ist, geistig-moralisch auszutrocknen. Dort, wo Freiheit den Menschen egal ist, treten Stumpfsinn und geistig-moralische Armut in den Vordergrund.
Doch ist Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft wie der unsrigen überhaupt ernsthaft bedroht? Und wenn ja, an welchen Stellen wird das freiheitliche Gemeinwesen brüchig? Zur Beantwortung dieser Fragen kann es hilfreich sein, einmal zu überlegen, wie sich Freiheit äußert. Oder – anders formuliert – welche konkreten Erscheinungsformen von Freiheit es gibt.
Da haben wir zunächst mal die offensichtlichste Form der Freiheit, nämlich die Bewegungsfreiheit. Für die Art und Weise, wie man sich bewegt, gibt es naturgemäß strenge Regeln. Man muss, um es ganz platt zu sagen, auf der Straße rechts fahren. Usw. Aber diese Regeln sind letzten Endes eher belanglos. Entscheidend ist, dass jeder mündige Mensch das Recht auf Freizügigkeit hat, also dorthin gelangen kann wohin er möchte. Ebenso entscheidend ist, dass er, sofern er keine anderen Pflichten verletzt, niemand Rechenschaft schuldig ist, wohin seine private Reise geht. In diesem Sinne ist die Freizügigkeit innerhalb Europas, ohne Grenzkontrollen, eine historische Leistung sondergleichen. Und damit kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Kontrollen schränken die Freizügigkeit ein, sie sind Einschnitte in die persönliche Bewegungsfreiheit. Nicht, weil die Fahrzeuge an Grenzen anhalten müssen, sondern weil durch Kontrollen Bewegungsprofile ermöglicht werden, die das Verhalten des Einzelnen sanktionsfähig machen. Wer befürchten muss, dass aus seiner Fortbewegung oder seinen Aufenthalten irgendwelche Rückschlüsse gezogen werden können, ist diesbezüglich nicht mehr frei.
Die größte Gefahr für die Bewegungsfreiheit geht allerdings nicht von Grenzkontrollen aus, sondern von der digitalen Überwachung. Diese erfolgt meistens versteckt unter dem Deckmantel von wohlfeilen gesellschaftlichen Anliegen wie Sicherheit, Komfort, Abrechnungsgerechtigkeit usw. Es sind smarte Methoden, deren negative Auswirkungen auf die persönliche Freiheit von vielen Menschen nicht wahrgenommen werden. Eine Sensibilisierung findet, wenn überhaupt, nur ansatzweise statt.
Eine andere Form von Freiheit ist die private Freiheit. Damit meine ich die Rückzugsgelegenheit in eine Privatsphäre, wo man tun und lassen kann was man will, sofern die Rechte von Mitmenschen nicht verletzt werden. Gemeint ist die Wohnung, die schlichtweg unverletzlich sein muss. Es hat schon seinen Grund, wenn das Eindringen in eine Wohnung, und sei es nur in Form von Abhörgeräten, grundsätzlich nur auf richterlichen Beschluss und in aktuten Gefahrenlagen erfolgen darf. Geschützte Privaträume sind umso wichtiger, je mehr sich ein Mensch in öffentlichen Räumen bewegen muss. Zum Schutz der Privatsphäre gehört auch die zeitweilige Unerreichbarkeit, etwa per Telefon oder Handy.
Und auch diese Freiheit ist durch die Digitalisierung gefährdet. Die vernetzten Geräte des Smarthome, der Echo-Lautsprecher von Amazon, ja, selbst das in der Wohnung eingeschaltete Smartphone, all das sind Geräte, die im Sinne von Abhöranlagen funktionieren können – und wahrscheinlich unbemerkt auch so agieren. Alle Geräte, die für ihre Funktion eine Verbindung zu einem zentralen Server benötigen, sind potentielle Angreifer auf die persönliche Freiheit. Vielfach wird auf die Gefahr hingewiesen, dass die Daten aus der privaten Wohnung am Ende bei einem Geheimdienst landen könnten. Ich weiß nicht, ob das so ist, doch ich bin sicher, dass die privaten IT-Unternehmen wie Facebook, Google oder Apple mit den unerlaubt gesammelten Daten mehr Unheil anrichten als ein unter staatlicher Aufsicht agierender Geheimdienst.
Machen wir weiter mit der Meinungsfreiheit. In einer demokratischen Gesellschaft ist die Meinungsfreiheit relativ gut gesichert – meint man. Im Grunde kann dort jeder das sagen, was er möchte, sofern er keine anderen Mitmenschen damit verletzt. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht, denn die Freiheit der Meinungsäußerung ist sinnlos, wenn man nur in einem schalldichten Container ohne Zuhörer sprechen darf. Sie ist auch sinnlos, wenn die Zuhörer, Leser oder Zuschauer keine Möglichkeit haben, sich ihre Meinung frei zu bilden, z.B. weil die Informationen gefiltert werden. Meinungsfreiheit beinhaltet immer auch Freiheit der Informationsbeschaffung. Dass die Informationen ein möglichst breites Spektrum abbilden müssen, und dass dieses wiederum nur bei zugesicherter Meinungsvielfalt möglich ist, ergibt sich unmittelbar aus dem Recht der Meinungsfreiheit.
Somit ist es nur verständlich, wenn autoritäre Systeme darauf bedacht sind, die Informationsbeschaffung zu beschränken und zu kanalisieren. Auf dem Weg in eine Autokratie geht es als erstes den freien Medien an den Kragen, weniger, um den dort tätigen Journalisten zu schaden, sondern vor allem um die Bevölkerung von Informationen fernzuhalten. In einem demokratischen System geschieht so etwas nicht, und doch ist auch hier die Meinungsfreiheit ständig gefährdet, haptsächlich durch Informationsblasen. Besonders bei regem Meinungsaustausch kommt es – vor allem wegen der Höherbewertung von allgemein bevorzugten Meinungsrichtungen, zu einer Art von „Meinungsverklumpung“. Gleichgesinnte bestärken sich gegenseitig in ihrer oft extremen Meinung und kapseln sich gleichzeitig nach außen hin ab. Diese Erscheinung kann zu einem bizarren Wahlverhalten führen, wie wir es jetzt in den USA erlebt haben. Aber auch die antisemitischen und fremdenfeindlichen Wellen in der Vergangenheit und – leider – auch Gegenwart haben sehr viel damit zu tun.
Die Entstehung von Informationsblasen kann man sehr deutlich analysieren, wenn man den regen Informationstausch in den digitalen Medien beobachtet. Man weiß inzwischen, welche verheerende Wirkung der ungehemmte Informationstausch in den sozialen Medien hat. Die Menschen, die sich in die Kommentarketten hineinhängen oder wie wild twittern, posten und liken, merken meistens gar nicht, wie sie sich immer mehr in einem eingeengten Meinungsbild verfangen und wie sich die Informationsblase um sie herum immer enger zusammenzieht. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Informationen vor allem über Messenger zugestellt werden. Informationsfreiheit verlangt aber, dass Informationen immer abgeholt werden. Nur so sind manipulative Einflussnahmen weitgehend zu begrenzen. Wenn jemand über seine App mit einer Reihe von Informationen konfrontiert wird, die alle in eine Richtung gehen aber irgendwie plausibel klingen, dann beginnt die Meinungs- und Informationsfreiheit gehörig an zu wackeln.
Schließlich noch ein Blick auf die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Kaum etwas wird durch Normen, gesellschaftliche Zwänge, betriebliche bzw. administrative Abläufe oder schlichten Gehorsam so sehr eingeschränkt wie unsere Handlungsfreiheit. Zunächst einmal möchte ich registrieren, dass hierbei eine positive Tendenz zu beobachten ist. Mit fortschreitender Demokratisierung auch in Betrieben und Verwaltungen wird der Freiraum für den Einzelnen größer. Der Anspruch auf ein „selbstbestimmtes Leben“, überhaupt das Verlangen nach Selbständigkeit ist kennzeichnend für diese Entwicklung. Doch diese Bestrebungen kommen aus einer nach Humanität strebenden Gesellschaft und werden – erneut – von der Digitalsierung gefährdet.
„Künstliche Intelligenz“, eine Kernfunktion der Digitalisierung, ist gedacht und geeignet, den Menschen Entscheidungen abzunehmen, nicht zuletzt deshalb, weil menschliche (humane) Entscheidungen oft unvollkommen sind, was immer man auch als Maßstab für Vollkommenheit setzen mag. Das „Befreien“ von lästigen Entscheidungen reicht bis in die privatesten, persönlichsten Bereiche hinein und macht das Leben unfreier. Mehr noch: Da eine freie Handlung normalerweise auf einer freien Entscheidung beruht, Entscheidungsfreiheit aber ständig geübt werden muss, wird die Gesellschaft auf schleichendem Wege unfähig, das Recht auf Handlungsfreiheit wahrzunehmen. Die Menschen wollen nicht mehr agieren, sondern sich digital bedienen lassen. Und sich nebenbei nicht mit der Verantwortung herumplagen, die untrennbar mit jeder freien Entscheidung verbunden ist.
Fazit:
Es scheint noch nicht ins Bewusstsein der meisten Bürger gedrungen zu sein, aber wenn die Positionen eines PKWs an etlichen Stellen registriert werden, wenn eine Gesichtserkennung verrät, dass Frau Sowieso zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Laden war, dann kann von freier Bewegung keine Rede sein. Wenn das Smarhome irgendetwas aus der Wohnung preisgibt, dann ist das wie eine Wanze, dann verliert die Wohnung als freien Schutz- und Rückzugsraum ihren Wert. Wenn man eine Meinung, die einem ungewollt von Facebook im Messenger präsentiert wird, aufgreift und zur Maxime eigenen Handelns aufgreift, dann vernachlässigt man die Grundregeln der Meinungsfreiheit. Wer sich in persönlichen Dingen auf digital berechnete Entscheidungen einlässt, trägt dazu bei, dass menschliche Entscheidungsfreiräume nach und nach aufgegeben werden. Smarter Freiheitsverlust.
Aber vielleicht ist das sowieso alles Schnee von gestern. Vielleicht kann (oder will) der smarte, zukünftige, aufgeschlossene, technisch versierte Mensch der Zukunft gar nicht mehr frei sein, sondern einfach nur noch funktionieren. Und dabei gut (= bequem) leben.