Die Kastanie

Ich liebe meinen Computer, immer noch. Es ist wunderbar, damit unter Code::blocks an einem C++-Algorithmus zu arbeiten oder mit Panda3D und unter Python virtuelle Landschaften zu konstruieren. Phantastische Märchenwelten. Die vielen Misserfolge stärken einen, und die eher seltenen Erfolge machen froh und frei.

Und dennoch: Je stärker die IT-Technik mit der totalen Vernetzung in die reale Gesellschaft eindringt, desto weiter entferne ich mich innerlich davon. Immer häufiger unternehme ich Spaziergänge, um in frischer Luft frei denken zu können. Natürlich bleibt das Smartphone dabei zu Hause. Um wieviel echter und wertvoller ist doch die Natur in ihrem Jahreszeitenwechsel. Zum Beispiel jetzt im Herbst. In den letzten Tagen habe ich bei jedem Gang eine Kastanie aufgehoben und in meinem Arbeitszimmer ins Bücherregal gelegt.

In der letzten Woche hatte ich so eine braunglänzende Kastanie in der Hand, als ich am Kanal meinen Rundgang machte. Da fragte ich mich: Was ist das eigentlich, was du in der Hand hältst? Überall lagen die Dinger herum, zum Teil zertreten, zum Teil schon vergammelt. Auf einmal wurde mir klar: Was ich in der Hand hielt, war so etwas wie ein Superchip. In dieser kleinen Kugel waren die Anlagen eines kompletten Kastanienbaums einprogrammiert – die Blätter mit ihrer typischen Form und ihren feinen Strukturen, der Stamm mit seiner rustikalen Rinde, die Form der prächtigen Krone. Und dann natürlich die Blüten und die neuen Kastanien. All diese unvorstellbar komplexen und komplizierten Vorgänge und Strukturen befanden sich in der Kastanie, die ich in der Hand hielt.

Kann die Menschheit im IT-Labor jemals so etwas erreichen? Wird die Menschheit imstande sein, mit Hilfe von gigantischen Speichern und extrem leistungsfähiger KI etwas zu schaffen, was nur annähernd an eine Kastanie heranreicht? Ich denke, nein. Besser: Ich hoffe, nein. Denn sollte die Menschheit ihre Technik so weit vorantreiben können, dann würde sie ihr eigenes Ende einläuten, ganz bestimmt. Insofern ist es tröstlich, im Konjunktiv verharren zu können. Denn bei aller Leistungsfähigkeit der natürlichen Vorgänge, sie funktionieren über Jahrmillionen hinweg nur deshalb so zuverlässig, weil sie ganz starr auf ein bestimmtes, vorgegebenes Verhalten ausgerichtet sind. Und weil die Evolution mit ihren Mutationen sich Zeit lässt, immer wieder neue Gleichgewichtszustände herzustellen.

Dazu sind die Menschen nicht imstande. Sie wollen herrschen und beherrschen und sprengen zu diesem Zweck immer wieder die Grenzen der Vernunft und Selbsbeschränkung. Doch bei aller Kritik an dem ausufernden und auch gefährlichen Gebrauch von „künstlicher Intelligenz“ erwarte ich dennoch nicht, dass sie den finalen Gau auslösen wird, obwohl sie natürlich das Zeug dazu hat. Nein, vorher wird uns unser geschändeter Planet die entscheidende Ohrfeige verpassen und sich auf auf ein Leben vor dem Leben der Primaten zurückziehen. Vielleicht gibt es dann nur noch Meerestiere.