Ach ja, die Menschenrechte

Ich habe das folgende Szenario schon einmal als Einleitung zu einem Beitrag verwendet, aber Szenen mit einer gelungenen Choreographie kann man m.E. ruhig mehrmals beschreiben. Also, hier das Geschehen:

Immer, wenn hochrangige, deutsche Politiker nach China reisen und dort auf einen hochrangigen, chinesischen Politker treffen, dann läuft es nach gleichem Schema ab. Der deutsche Gast (sehr oft Merkel) mahnt pflichtgemäß zur Einhaltung der Menschenrechte, und der chinesiche Gastgeber hört höflich mit einem eingefrorenen Lächeln zu. Sind ja nur ein paar Minuten. Dann ist die Pflichtveranstaltung zu Ende, und die Situation entspannt sich. Die beiden Wirtschaftsdelegationen fallen übereinander her, und der offizielle Teil des Besuches beginnt. Den Deutschen geht es um Absatzmärkte und damit um Wahrung des Wohlstandes in deutschen Landen, wobei vorrangig der Wohlstand der Besser- und Bestverdienenden gemeint ist. Den Chinesen geht es um Ressourcen, wozu auch Wissen und Know-how gemeint ist, um Lebensräume und um globale Machtansprüche.

Aber zurück zu den Menschenrechten. Natürlich bewirkt der regelmäßig vorgetragene Appell nichts außer dem guten Gefühl, seine bürgerliche Pflicht als überzeugter (und gelegentlich auch überzeugender) Demokrat erfüllt zu haben. Menschenrechte in China – so ein Unsinn. Die Chinesen haben ihre eigenen Vorstellungen von gesellschaftlichen Werten und folgen ihnen konsequent. Man kann einem Gesellschaftssystem mit seinen Wertvorstellungen nicht einfach die eigenen Regeln überstülpen, es sei denn, das System bricht zusammen. Aber auch dann geht es nicht glatt, wie das Beispiel der deutschen Wiedervereinigung zeigt. Ein Großteil der Ostdeutschen hat bis jetzt noch nicht verinnerlicht, dass Demokratie nichts mit Bequemlichkeit und sicherem Versorgtwerden im Alltag zu tun hat. Im Gegenteil. Es ging den Protestierenden in der DDR auch gar nicht um die unbekannte Demokratie, sie sahen den Wohlstand jenseits des Eisernen Vorhangs und vor allem wollten sie nicht mehr eingesperrt sein und von der Stasi überwacht werden, Das Wesen der Demokratie mit ihren Unbequemlichkeiten, Unsicherheiten, Reibereien usw. war ihnen unbekannt, natürlich.

Wenn sich die Gesellschaftsordnung eines Staates von Grund auf ändert, dann sind Kräfte am Werk, die sich nicht um etablierte gesellschaftliche Werte scheren. Die werden einfach angepasst, wenn’s sein muss auch von Grund auf umgestülpt. Für viele Menschen wird es nach einer „Wende“ problematisch, weil ihr Verhalten im alten System nicht zu den Wertvorstellungen des neuen Systems passt. Sie geraten in Konflikte und müssen sich, um keine Nachteile zu erleiden, den neuen Werten anpassen. Damit heften sie sich quasi das Etikett der Unglaubwürdigkeit an ihre Jacke. Nicht wirklich lösbar, das Problem.

Noch einmal: gesellschaftliche Werte vermögen ein System zu stabilisieren, aber sie sind selbst nur stabil, solange das System hält. Einen dramatischen Systemwandel erleben wir zur Zeit ja in Form des digitalen Wandels. Nennen wir’s ruhig „Wende“, denn die zukünftigen Gesellschaftssysteme werden andere sein, mit völlig anderen Wertkatalogen. Das derzeit häufig geäußerte Verlangen, im Netz müssten dieselben moralischen Grundätze gelten wie im „analogen“ Leben, ist total naiv. Diese Grundsätze werden definitiv nicht aufrecht zu halten sein – es sei denn, die Menschheit bremst die Digitalisierung ab und verschafft sich erst mal Klarheit über eine wünschenswerte Zukunft. Das zu erwarten, ist allerdings illusorisch, weil die Digitalisierung nicht von Vernunft und Voraussicht, sondern vom Gewinnstreben übermächtiger Konzerne gesteuert wird.

Um eine Vorstellung von den zu erwartenden Änderungen im Wertesystem zu erhalten, muss man kein Zukunftsforscher oder Hellseher sein. Man muss nur die sich deutlich abzeichnenden Änderungen beobachten und die Parallelität zum smarten Fortschritt aufzeichnen, dann sollte deutlich werden, was demnächst unseren Wertekatalog bestimmen wird. Die Grund- und Menschenrechte bestimmt nicht, die fallen nahezu komplett durchs Sieb: sie sind nicht zu halten und werden überdies zum großen Teil überflüssig. Die Praktiken im Internet machen sie schlichtweg obsolet.

Jammern? Ach nein. Bereiten wir einfach unsere Folgegenerationen auf das Leben im digitalen Umfeld vor. Verdeutlichen wir ihnen, dass sie sich nichts draus machen sollen, wenn sie bedroht und beschimpft werden, denn es wird ja nicht zu verhindern sen. Ermuntern wir sie, sich ein dickes Fell zuzulegen und die digitalen Ellenbogen zu trainieren, im Interesse ihres Wohlbefindens. Machen wir die zukünftigen Erwachsenen ganz einfach internetfähig, mit einem dicken Digitalfell. Erklären wir der ihnen, dass kein Mensch irgendein Geheimnis haben muss, dass so private Räume wie die Wohnung ganz einfach nicht notwendig sind. Warum soll nicht die ganze Welt wissen, was wir uns zu Hause zu sagen haben? Sie wird es ja ohnehin mitbekommen, dank der saubequemen Alexa. Machen wir den zukünftigen Generationen deutlich, dass zwischenmenschliche Beziehungen und unmittelbare Kommunikationen die Menschheit bisher nur gebremst haben. Gegenseitige Achtung – wirklich erforderlich? Wozu? Was soll diese Achtung noch schützen außer nostalgische Lebensträume von Menschen, die in der Vergangenheit stecken gebieben sind? Hemmungslosigkeit als Übel? Quatsch, Hemmungslosigkeit ist ein Zeichen von Freiheit, oder?

Es mag hart klingen, aber warum drumherum reden? Ein Mensch, der als Skelett im Sarg oder als Asche in der Urne liegt, braucht keine Menschenrechte mehr. Ein Mensch, der digitalgesteuert funktioniert, ebenfalls nicht. Daten haben das Regiment übernommen, ihr Nutzen bestimmt die Werte der Zukunft, ihre Strukturen die Lebensweise der Zukunft.