Kürzlich, als meine Frau mich auf einen Flecken auf meinem T-Shirt aufmerksam machte und ich die Sache eingehend betrachtete, fiel mir zum ersten Mal auf, was für ein Wunderwerk so ein Stück Stoff doch ist, dieses enge Geflecht aus hauchdünnen Fäden. „Früher musste man den Stoff mühsam von Hand weben, und heute kann man sowas in gigantischer Menge in kurzer Zeit produzieren“, merkte ich an. „Aber heute fehlt die Wertschätzung für diese Produkte“, meinte meine Frau.
Sie hat natürlich recht. Geht das überhaupt, Wertschätzung für Dinge, die im Überfluss vorhanden sind? Je größer die Masse, desto geringer der Wert – ein uralter Sachverhalt. Wenn Gold zuhauf in der Gegend herumliegen würde, wäre es nichts wert.
Aber schauen wir uns einmal um und betrachten so einiges, was im Überfluss vorhanden ist bzw. hergestellt wird.
Zum Beispiel Kleidung. Ein paar mal tragen, dann wird das Zeug weggeworfen. Die Energie, die zur Herstellung erforderlich ist, die unerträglichen Arbeitsverhältnisse in Ländern wie Bangladesch, wen interessiert’s? Und Wertschätzung, wenn der Kleiderschrank zu klein wird – und der Weg zum Altkleidercontainer zu mühsam ist?
Zum Beispiel Nahrungsmittel. Elf Millionen Tonnen werden in Deutschland jährlich weggeworfen. Wer denkt da schon an den Wasserverbrauch, an den Energieverbrauch für unnützen Nahrungsmitteltransport? Ja, und wie soll eine vollgefressene oder gar übersättigte Gesellschaft noch etwas wertschätzen, was tonnenweise in Containern landet?
Zum Beispiel Mobiliät. Wie viele Autoflahrten könnte man ohne irgendwelche Nachteile streichen? Hat schon mal jemand ausgerechnet, welche gigantischen Vorteile es für die gesamte Welt hätte, wenn der Autoverkehr auf das notwendige Maß, sagen wir mal auf die Hälfte schrumpfen würde? Es geht ja nicht nur um Sprit und Strom und Kohlendioxidausstoß, es geht ja auch um Straßen, Gesundheitskosten für Unfallopfer, Abholzung von Regenwäldern für den Anbau von Kautschukbäumen (Autoreifen) usw. Sicher. das Auto wird wertgeschätzt, denn für die Menschen ist es Zuhause, Kuscheltier, Prestigeobjekt usw. Aber Mobiliät an sich? Bei mehr Wertschätzung für Mobilität würde man daran denken, dass jede Art von Fortbewegung, außer der mit Muskelkraft, Ressourcen verbraucht.
Zum Beispiel Kommunikation. Je mehr „Friends“ man auf einer digital-sozialen Plattform anhäuft, desto oberflächlicher und billiger die Kommunikation, bis hin zu einem kommunikativen Rauschen ohne jeden Informationsgehalt. Wertschätzung von Kommunikation in einem informationellen Getöse? Unmöglich. Schlimm dabei ist, dass damit auch eine mangelnde Wertschätzung von Informationspartnern, also Menschen verbunden ist.
Zum Beispiel das Fotografieren. Schön, dass es die Digitalfotografie gibt, aber die Wertschätzung von fotografischen Produkten gehört in einer Zeit, wo immer an jedem Ort alles fotografiert wird, der Vergangenheit an. Und wie bei der Kommunikation gibt es noch den schlimmen Nebeneffekt, dass die Würde der Mitmenschen an Bedeutung verliert. Die „Gafferfotografie“ ist bezeichnend.
Ja, durch die moderne Technik, insbesondere die Digitalisierung, gehen Werte verloren, und zwar in einem Ausmaß, das eigentlich aufrütteln müsste. Tröstlich dabei, dass die Menschheit sich problemlos in eine immer billiger werdende Gesellschaft einlebt. Heißa, heute Abend trinke ich einen Whisky auf die Zukunft. Einen wertvollen Single-Malt von der Westküste Schottlands. Jeder kleinste Schluck ein wertvolles Geschmackserlebnis.