Not macht erfinderisch und lässt die Menschen Wege entdecken, die in guten Zeiten nicht sonderlich beachtet werden. Und klar, zur Zeit des Digitalisierungs-Hype wird bei jedem (!) auftauchenden Problem zuerst mal nach einer digitalen Lösung gesucht. Und für Behelfslösungen in Notsituationen ist die Digitalisierung echt gut, so auch, wenn es um Corona geht. HomeOffice, HomeSchooling (nach meinem Sprachgefühl das widerlichste Wort im deutschen Sprachgebrauch), kontaktloses Quatschen über die Netzplattformen, Video-Konferenzen, intensives Sich-lieb-haben per Digitalkommunikation, Onlinekäufe (au ja) usw. usf. Und dann natürlich noch das vielversprechende Corona-Tracing mittels Smartphone. Na ja, ein paar digitalfreie Lösungsansätze gibt es natürlich ebenfalls, so die Vermummung mit Gesichtsmasken, kein Händeschütteln und erst recht keine Küsschen auf linke und recht Backe.
So fremd alle diese Einschränkungen zuächst erscheinen – man gewöhnt sich. Ja, man gewinnt das eine oder andere richtig lieb, denn über Gewohnheiten muss man nicht groß nachdenken, und schon deshalb sind sie liebenswert. Und so ist es nur verständlich, wenn bereits die ersten zukunftsorientierten Bürger aus der Deckung kommen und – zunächst noch leise – betonen, dass viele der Maßnahmen doch ganz gute Modelle für die Zeit nach Corona sein könnten.
Meine Antwort ist ein klares Nein. Das alles sind wirklich nur Behelfsmaßnahmen, die verworfen werden müssen, so schnell es eben geht. Schon bevor das Corona-Virus über die Welt hinwegfegte, litt die Gesellschaft an einer Überdigitalisierung und, daraus folgend, an einem gravierenden Mangel an unmittelbaren, persönlichen Kontakten. Die Resultate waren überdeutlich und äußerten sich zum Beispiel in der Verflachung und Verrohung der zwischenmenschnlichen Kommunikation. Das alles wird durch die derzeitige, notgedrungene Hinwendung zu noch mehr Digitalsierung vervielfacht. Wenn das ganze Theater mal vorbei ist, dann kann es nur eines geben, nämlich die Neubelebung und Intensivierung der persönlichen Direktkontakte.
Aber ich denke, die Menschen werden von sich aus erkennen, das „HomeSchooling“ (Scheißwort) ebenso erfolglos wie demotivierend ist. Lernen braucht ein soziales Umfeld. Punkt. Beim HomeOffice ist es nicht so dramatisch, aber auch Berufstätige brauchen den persönlichen Kontakt zu Kollegen, meistens jedenfalls. Die Probleme, die sich beim Arbeiten zu Hause vielfach ergeben, will ich gar nicht mal erwähnen.
Und was ist mit dem Corona-Tracing, jener App, die sich viele Leute sehnlichst herbeiwünschen? Es kann Gründe geben, diese App einzusetzen, obwohl jedem klar sein muss, dass das Versprechen nach Anonymisierung nicht eingelöst werden kann. Und außerdem sollte jedem klar sein, dass die gewonnenen Daten für immer gespeichert sein werden – unauslöschbare Spuren. Ein entscheidender Faktor wird nämlich oft nicht beachtet: Kontaktsperren, die Stilllegung des öffentlichen Lebens usw., das sind alles Maßnahmen, die sich quasi von selbst aufheben, wenn sie nicht zwingend mehr erforderlich sind. Andere Einschränkung wie HomeOffice oder Videokonferenzen werden immer auf einige Zeitgenossen ihren Reiz ausüben, aber die Mehrheit der Bevölkerung wird wahrscheinlich bald die Nase davon voll haben. Mund-Nasen-Schutz? Ich denke, diese Accessoires werden dauerhaft ihre Liebhaber finden, zumal sie auch den Nebenzweck der Vermummung erfüllen. Ich kann mir gut vorstellen, dass mancher Modeschöpfer bereits darüber nachdenkt, passende Masken in die Kollektion einzubauen.
Doch die Daten des Corona-Tracings werden wahrscheinlich immer verfügbar sein; hier ist kein Schlussstrich zu erwarten. Vor allem aber ist das Tracing ein weiterer Schritt hin zu einer allgemeinen Überwachung von Bürgern, und alle Erfahrungen deuten darauf hin, dass mit jeder geöffneten Tür eine weitere Tür zum Öffnen verlockt. Mit Anonymisierung und Freiwilligkeit ist es noch nicht getan, sondern es müssen überprüfbare Mechanismen zum endgültigen Löschen aller Tracing-Daten installiert werden. Ob das möglich ist? Und wenn ja, ist das überhaupt gewünscht?
Bleibt abschließend noch ein kurzer Blick auf die Vorbilder. Nein, ich will jetzt nicht den Blick nach Norden richten, in die digitalen Traumländer Skandinaviens oder des Baltikums. Südkorea wird immer wieder mal als Vorbild in der Bewältigung der Corona-Krise vorgestellt: Testen, was die üppig ausgestatteten Labore hergeben, Mund-Nasen-Schutz bei jedem und überall und jederzeit, dazu die konsequente Kontaktüberprüfung jedes Bürgers per App. Freiwilligkeit? Die Frage stellt sich nicht, denn jeder Bürger im Lande des Samsung-Konzerns führt ständig das Smartphone mit sich herum. Jeder. Das heißt, eigentlich ist es eher umgekehrt: die allgegenwärtigen Smartphones führen die Bürger durch die Gegend, vermummte Menschenmassen ohne Gesichter. Moderne Leute eben. Und natürlich gesund – zumindest körperlich.