Allmählich is gut, Herr Klinner

Seit langem schon bin ich interessierter Zuschauer der Nachmittagssendung „Heute in Europa“. Nicht täglich, nein, dazu habe ich meist keine Zeit, aber so zweimal, dreimal die Woche. Der Blick über den deutschen Tellerrand, das Engangement für Europa, das sind für mich schon überzeugende Gründe, den Fernseher gegen 16:00 Uhr einzuschalten. Außerdem sind einem die Moderatoren sehr vertraut: Jasmin Hekmati, Julia Theres Held oder auch Andreas Klinner. Sie alle geben der Sendung eine persönliche Note, z.B. der Klinner, der zu Beginn immer ein Hauptthema ankündigt und dann noch auf weitere Themen mit „… und außerdem  …“ hinweist.

So sympathisch der persönliche Anstrich durch die jeweiligen Moderatoren auch rüberkommt, zumindest grundsätzlich, so ist die eine oder andere Vorliebe doch eher unangenehm. So zum Beispiel Klinners Anhimmeln der skandinavischen bzw. baltischen Lebensart, wenn’s um digitale Lebensgestaltung geht. Zweimal schon habe ich mitbekommen, wie er Estland als digitales Schlaraffenland geradezu anpries. Für mich war’s schwer zu ertragen, denn genau so möchte ich nicht leben.

Und ich wünsche mir, dass die Verhältnisse nicht nach Deutschland überschwappen. Nur ein Beispiel: Klinner lobte die geradezu paradiesischen Zustände in estländischen Schulen, wo schon jeder Grundschüler Zugang zu einem 3D-Drucker habe. Mein Gott, Herr Klinner, ein 3D-Drucker ist ziemlich das Letzte, was ein Schüler braucht, um zu gestalten oder Formen zu erfassen. Schere, Papier, Klebstoff usw. sind um Größenordnungen wichtiger und auch bildungswirksamer als ein digitales Hightech-Gerät. Und auch das gezeigte Lernen an einzelnen Terminals darf nur eine Ergänzung sein; viel wichtiger ist das Lernen in Gruppen. Nicht Isolierung, sondern Gemeinschaft. Ja, und gerade, was das soziale Gefüge angeht, gibt es in Estland erhebliche Defizite. Aus historischer Sicht verständlich, aber dennoch nur bedingt als Vorbild geeignet.

Heute nun ein weiteres Highlight von Klinner. Er kündigte Finnland als möglicherweise nachahmenswertes Land an, wenn’s um moderne Lebensformen geht. Finnland – ja, ich mag das Land und habe Helsinki als überaus freundlichen Ort kennengelernt. Das war allerdings noch zu analogen Zeiten. Egal, ich konnte mir denken, welchen Schwerpunkt Andreas Klinner setzen würde, und ging hinaus, bevor der Beitrag begann. Etwas später schaute ich noch einmal kurz durch die Tür und sah genau das, was ich erwartete: ein Smartphone, mit dem offenbar irgendwas im Haushalt gesteuert wurde. Ich schlug die Tür wieder zu, ganz schnell.

Sorry, ich kann sie nicht mehr ertragen, diese völlig blinde Digitalgläubigkeit, diese passive Gleichgültigkeit, mit der sich die Menschen in ein digitales Datengeflecht eingliedern lassen. Mir kommt es vor, als würde bei den meisten Zeitgenossen der nüchterne Menschenverstand, der durchaus ein guter Maßstab für die Abwägung zwischen gut und schlecht sein kann, im digitalen Strudel kurzerhand ausgeschaltet.

Ja, digital kann gut sein (wenn’s gut gemacht ist), ist aber auf keinen Fall schon deshalb gut, weil’s digital ist. So einfach ist die Angelegenheit. Und: Diejenigen, die die gravierenden Nachteile der Digitalsierung einfach ignorieren, die machen es schlecht. Definitiv. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschheit irgendwann begreift, dass das Internet, wenn man es falsch anpackt, mehr Schaden anrichtet als Nutzen bietet. Es gibt erste Anzeichen, dass einige Leute im Begriff sind zu kapieren. Doch je länger wir das Internet unkontrolliert wüten lassen, desto schwieriger wird es sein, die Schäden wieder auszubügeln. Denn die Wunden, die durch

  • Verrohung der Gesellschaft durch Hassplattformen,
  • Realitätsverlust durch Fake-News,
  • Manipulationen durch Informationsblasen,
  • sexuelle Versumpfung,
  • kriminelle Durchdringung der Gesellschaft,
  • Verlust von persönlicher Kontaktnähe,
  • Verlust von Verantwortungsbereitschaft und Urteilsfähigkeit,
  • Gefährdung durch Hacker-Angriffe,
  • Gaffer-Fotografie und -Videofilmerei,
  • kaum bremsbare Verbreitung von kinderpornografischem Material,
  • kriminelle, extremistische und terroristische Zusammenrottungen,
  • bedenkliche Vorbilder in Youtube-Kanälen,
  • unkontrollierbare Datensammlungen und Verhaltensanalysen

entstehen, heilen nicht so schnell – wenn überhaupt. Und machen wir uns nichts vor, all diese gravierenden Negativerscheinungen sind kein unabwendbares Schicksal, sondern die Folge eines falschen Umgangs mit dem Internet. Das Internet selbst macht die Welt nicht kaputt, wohl aber die total falsche Gestaltung des Netzes, die Überbewertung seines Nutzens, das gedankenlose Herumreiten auf dem Hype der absoluten Digitalisierung. Und allen, die auf die enormen Chancen der Vernetzung hinweisen, sei gesagt: Ja, die gibt es, diese Chancen – wenn man sie richtig nutzt. Davon sind wir zur Zeit noch Lichtjahre entfernt. Und ob wir die Chancen bei diesem blinden Vorpreschen überhaupt irgendwann mal nutzen können, ist keineswegs sicher. Auf jeden Fall wird die Müllhalde, auf der wir den durchs Internet erzeugten Mist entsorgen müssen, gigantisch groß werden. Auch gewaltiger Sperrmüll wird anfallen, z.B. in Form von falsch konzipierten Plattformen wie Facebook, die einfach abgeschaltet gehören, damit saubere Plattformen eine Chance bekommen.

Mein Gott, nach dem Debakel mit der Kernenergie, nach dem Verkehrschaos mit seinen schlimmen Auswirkungen auf das Klima, nach dem Einsetzen der Massenproduktions-Orgien sollten wir doch gelernt haben, dass man technische Entwicklungen nicht wie ein Naturgesetz über sich ergehen lassen darf. Das gilt auch für die Digitalsierung. Die Menschheit muss noch lernen, Zukunft nicht nur zu prognostizieren, sondern zu gestalten. Und je mächtiger die Gestaltungsmöglichkeiten sind, desto wichtiger ist kontrolliertes Vorgehen mit klaren Zielvorgaben. Nicht Digitalisierung ist das Ziel (wie absurd, dieser Gedanke), sondern das, was wir damit ganz konkret erreichen wollen. Und wenn es in eine falsche Richtung geht, dann bleibt doch nur eines: anhalten, sich orientieren und das weitere Vorgehen erneut planen. So abwegig?