Ich hocke vor dem PC und schaue mir das Youtube-Video von dem Rezo an, jenes Video, das die Vernichtung der CDU zum Ziel hat. Klar, wenn mehrere Millionen begeisterte Menschen das Video betrachtet haben, darf ich mich nicht ausklammern. Schließlich will ich mitreden können, und das heißt zunächst mal: mitwissen. Zu wissen, wie man die CDU kaputt macht, kann ja nicht schaden.
Was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Donnerwetter, der Junge kann reden. Eine knappe Stunde lang, locker vom Hocker, in einem Stil, der junge Leute förmlich mitreißt. Ehrlich, wenn ich noch jung wär, ich würde auf der Stelle ein großes Poster von Rezo an die Tür heften und mir die Haare blau färben. Und die jungen Leute haben sich von ihm ja begeistern lassen. Inwieweit die kurz darauf folgende Europa-Wahl von dem Video beeinflusst wurde, darüber kann man nur spekulieren. Will ich hier aber nicht.
Jedenfalls ist es bemerkenswert, wie gute Redner die Massen förmlich von den Sitzen reißen können. In der Geschichte gibt’s genügend Beispiele für die Mobilisierung von Menschenmassen durch Redner, die überzeugend auftreten. Die Ziele und die angesprochenen Menschengruppen variieren, aber immer kommt es darauf an, einen empfindlichen Nerv zu treffen. In diesem Fall ist es die Jugend, wobei sich auch viele Menschen zwischen 30 und 60 noch angesprochen fühlen. Ja, so geht Überzeugungsarbeit. Dass der gute Rezo wahrscheinlich nicht von sich aus aktiv wurde, sondern dass dahinter eine Werbefirma und evtl. ein bezahlter Auftrag steht – was soll’s.
Ohne Youtube wäre ein dermaßen überzeugender Auftritt natürlich nicht möglich gewesen. Youtube – die ideale Plattform für Selbstdarstellungen. Da kann man seine Person wirkungsvoll in den Lichtkegel stellen und die Kraft seiner Persönlichkeit so richtig zur Geltung kommen lassen. Für die effektive Verbreitung sorgen dann die Friends, die sich virtuos auf den sozialen Plattformen bewegen und die digitalen Flugblätter verteilen, stapelweise. Kurz: Der Rahmen für die CDU-Vernichtungs-Initiative stimmt in jeder Beziehung. Ich habe das Gefühl, dass Rezo bald einige Nachahmer findet, was Stil und Auftreten betrifft.
Aber stimmen auch die Inhalte? Ich muss sagen, spontan war ich diesbezüglich ebenfalls beeindruckt. Der Rezo hat da Dinge ausgesprochen, die ich der CDU liebend gern um die Ohren gehauen hätte – wenn ich gekonnt hätte. Aber leider bin ich kein Genie wie Rezo, ich kann hier nur Beifall klatschen. Denn was die wesentlichen Kritikpunkte betrifft, hat Rezo (oder der Auftraggeber im HIntergrund) ja recht: Der Kapitalismus mit seiner stets weiter auseinanderklaffenden Schere von Arm und Reich hat sich tatsächlich zu einem üblen Gebilde entwickelt. Die Klimapolitik war und ist tatsächlich viel zu zögerlich und unentschlossen. Oder dass die Bundesregierung es zulässt, dass Amerikaner von Ramstein aus Angriffe mit Drohnen steuern, ist tatsächlich ein Skandal. Auch, dass in Deutschland noch Atomwaffen gelagert werden. Die inhaltliche Kritik an der Politik der etablierten Parteien (es ist ja nicht nur die CDU gemeint) ist also durchaus berechtigt und keineswegs aus der Luft gegriffen.
Und dennoch erzeugen die Ausführungen von Rezo ein Unbehagen. Es mag ja stimmen, dass die Fakten richtig wiedergegeben werden, aber es fällt auf, dass keine Lösungsvorschläge gemacht werden. Um Lösungswege aufzuzeigen zu können, müssten die Probleme in ihrer ganzen Komplexität beschrieben werden, und genau da hapert es in dem Youtube-Beitrag. Wer eine umgehende und radikale Wende in der Klimapolitik fordert, muss bereit sein, den hunderttausenden in der Kohlebranche Beschäftigten zu sagen, dass sie von heute auf morgen arbeitslos werden. Er muss deutlich machen, dass es keine Bürgerinitiativen mehr geben darf, die sich nach dem St-Florians-Prinzip gegen die Verlegung von Stromnetzen vor der Haustür wehren. Er muss die gesamte Touristik-Branche in Frage stellen, einschließlich der eigenen Urlaubspläne. Usw. Oder wer sich lösungsorientiert gegen die amerikanischen Stützpunkte in Deutschland wendet, muss die Bündnisfrage erörtern. Oder wer mehr soziale Gerechtighkeit einfordert, muss den Kapitalismus mit seinem Investitions-Marketing in Frage stellen und letztlich sogar die globalen Verflechtungen.
Es ist relativ einfach, Missstände anzuprangern, doch deren Beseitigung ist zum großen Teil eine Frage von Abwägungen. Dass insbesondere die CDU in einer Reihe von Fragen falsche oder unglückliche Gewichtungen vorgenommen hat, ist für mich ohne weiteres nachvollziehbar, weshalb ich Rezos Kritik durchaus ernst nehme.
Aber es gibt noch zwei weitere Aspekte, auf die ich kurz eingehen möchte. Da ist zunächst die Reaktion der Regierung auf das Youtube-Video. Die Parteispitze wurde offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt, und in Anbetracht des schlechten Ergebnisses der Europawahl und der zeitlichen Platzierung des Videos zwei Tage vor der Wahl kann man die Bestürzung sogar verstehen. Insbesondere AKK versuchte, ihren Missmut zu formulieren. Aber sich darüber aufzuregen, dass jemand kurz vor der Wahl öffentlich davon abgeraten hat, CDU/CSU zu wählen, ist schlichtweg Quatsch. Warum soll ein Bürger keine Empfehlungen gegen eine Partei aussprechen dürfen, so wie es die anderen Parteien im Wahlkampf ja ebenso machen?
Der Hauptfehler von AKK war jedoch, dass sie nicht die Befindlichkeiten der Betroffenen berücksichtigte, vielleicht auch gar nicht kannte. Ein Großteil der meist jüngeren Bevölkerung lebt hauptsächlich im Netz, hat vielfach nur noch einen schwachen Bezug zur realen Welt. Freiheit ist für sie die Freiheit, im Netz alles sagen und zeigen zu dürfen, was sie möchten. Wer diese Freiheit durch Kontrolle begrenzen will, greift erheblich in die Lebensauffassung der Betroffenen ein und erntet wütende Proteste. Nun sind Proteste in einer demokratischen Gesellschaft vielleicht unbeqem, aber nichts Negatives, nichts, worüber man besorgt sein müsste. Doch die Proteste aus der digitalen Ecke haben eine besondere Qualität, denn sie befeuern einen besorgniserregenden Generationskonflikt, der wesentlich stärker und trennender ist als etwa zur Zeit der 1960er Protestwellen. Stärker deshalb, weil nicht nur eine überschaubare Gruppe von „Querdenkern“ auf die Straße geht, sondern eine gesamte Generation.
Das zweite, was noch zu erwähnen wäre, ist die außerordentliche Macht, die von den digitalen Medien ausgeht. Während die Kommunikationsplattformen wie Instagram oder Facebook diese Macht vor allem durch die Möglichkeit der explosiven Verbreitung erlangen, bietet Youtube vor allem die Kraft der beliebig ausgestaltbaren Ansprache von vielen Betrachtern mit intensiven medialen Mitteln. Zur analogen Zeit wurden die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten verpflichtet, sich in Punkto Perteinahme zurückzuhalten, wegen der Kraft, die von den bewegten Bildern ausgeht. Youtube ist inwischen viel, viel mächtiger als etwa die Fernsehanstalten, und dennoch gibt es keine Mittel, der Plattform irgendeine Zurückhaltung aufzuerlegen, es sei denn, es handelt sich um offensichtlich strafbare Beiträge oder um Verstöße gegen die prüde amerikanische Schein-Sexualmoral. Nun ist ein übermächtiges Medium an sich noch kein Problem, es sein denn, das Medium wird missbraucht. Und diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Rezo hat Youtube jedenfalls nicht missbraucht, da lauern ganz andere Leute bzw. Institutionen im HIntergrund.
Wie also reagieren auf ein Video wie das von Rezo? Einfach überhaupt nicht reagieren, wie es die Zunft der allzeit Besonnenen vorschlägt? Hm, ich weiß nicht. Oder auf Dorothee Bär hören, unsere Dilgital-Staatsministerin? Sie schlägt – wie auch anders – vor, dass Politiker stärker die sozialen Medien nutzen sollten. Diskussion über Youtube oder Facebook? Und das, obwohl chaotische Freiheit das Grundrecht der digitalen Medien ist? Hm, es gibt gute Aussichten, dass dieser Weg im Chaos mündet. Und: Sollte nicht ein twitternder Präsident genug sein?
Nein, es gibt m.E. nur einen vernünftigen Weg: die Beiträge in den digitalen Medien ernst nehmen, sofern sie ernst genommen werden können. Und dann sachlich und seriös darauf reagieren. Falls es sich bei den Beiträgen um Bullshit handelt, sollte man sie einfach nicht beachten. Vor allem aber kommt es darauf an, von vornherein einen Politikstil zu pflegen, der alle Bürger ernst nimmt.