Opfer und Täter

In der Tageszeitung fiel mir neben den beschriebenen Stellen (siehe vorangegangenen Beitrag) eine weitere Textstelle auf, auf die ich aber gesondert eingehen möchte. Es ist ein Statement von Frau Merkel im Rahmen einer Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZs Auschwitz. Merkel nimmt die Ereignisse der NS-Zeit zum Anlass, Menschlichkeit zu fordern. Eigentlich wunderbar, diese Forderung, und kein Grund, daran Kritik zu üben. Ich will auch nicht die Forderung nach Menschlichkeit kritisieren, in keiner Weise. Was mich stört, ist die Einseitigkeit dieser Forderung.

Menschlichkeit und Nazi-Verbrechen. Danke, Frau Merkel, dass Sie mir auf diese Weise mitgeteilt haben, dass das Nazi-Regime unmenschlich war. Ist doch wichtig zu wissen. Diese sarkastische Anmerkung fiel mir spontan ein, doch das Thema ist zu sensibel, um es ironisch anzugehen. Also zurück zur sachlichen Ebene.

In der letzten Zeit haben die Aufarbeiter die Opferrolle entdeckt. Man denkt, wenn es um das Mobbing in den sozialen Medien geht, nun vor allem an das Leid derjenigen, über die die Meute herfällt. Oder der Missbrauch in den Kirchen. Neuerdings stehen vor allem die traumatischen Erlebnisse der Opfer im Vordergrund. Es gibt weitere Fälle von Fokussierung auf die Opfer, einfach nur mal etwas rumschauen. Und genau da reiht sich auch die Forderung von Merkel ein: Nazi-Verbrechen als Unmenschlichkeit gegenüber den Opfern und das Leid der vielen, vielen Opfer. Ja, dessen muss man sich immer bewusst sein, keine Frage.

Aber: Mitgefühl ist zwar nötig, Entschuldigungen sind unumgänglich, doch je weniger man unmittelbar an den Verbrechen beteiligt war (es gibt ja nur noch eine historische Schuld, die allerdings nie endet) desto leichter geht eine Entschuldigung über die Lippen. Mehr noch, eine solche Entschuldigung, verbunden mit echter Zerknirschung, ist letzten Endes ein Zeichen von Größe.

So wichtig die Beachtung der Opfer ist, die Aufarbeitung der Täterrolle ist noch wichtiger. Und diese Aufarbeitung ist hart und kann nicht mit Entschuldigungen aus der Welt geschafft werden. Sie muss ständig geleistet werden, schnörkellos und konsequent. Das Kernfrage der Aufarbeitung der NS-Zeit ist klar: Wie konnte es geschehen, dass ein Volk sich an derartigen Verbrechen beteiligte? Dabei waren die Konzentrationslager zwar die Zentren der Verbrechen (neben den Orten der vielen SS-Massaker), für die Aufarbeitung heute sind meines Erachtens die Progrome der „Kristallnacht“  viel aufschlussreicher, weil sich hierbei alles unter den Augen der Bevölkerung abspielte.

Einer Bevölkerung, die um keinen Deut besser oder schlechter war als die Bevölkerung heute. Und so kann es eigentlich nicht verwundern, dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wieder aufleben. Spannender ist die Frage, warum es nach dem Krieg einige Jahrzehnte gab, wo Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus keine bemerkenswerte Rolle spielten. Oder soll man sagen: keine bemerkte Rolle spielten? Ich will hier nicht auf die Ursachen des Antisemitismus eingehen, dass können Historiker besser.

Nur so viel: Der in Jahrhunderten in Europa gewachsene und besonders in Deutschland stark ausgeprägte Antisemitismus ist fest im Unterbewusstsein der Gesellschaft verankert und lässt sich nicht mit wenigen Maßnahmen überwinden. Selbst in einer oberflächlich gesunden und menschlichen Gesellschaft ist Antisemitismus latent vorhanden und wartet nur auf Gelegenheiten zum Ausbruch. Wenn es in der Gesellschaft tolerant und friedlich zugeht, dann heißt das zunächst, dass antisemitische und fremdenfeindliche Tendenzen entweder keine Gelegenheit haben, an die Oberfläche zu brodeln, oder dass die Menschen ganz einfach mit positiven Herausforderungen ausgelastet sind. Wenn letzteres allerdings scheitert und Hoffnung sich in Entmutigung umkehrt, dann öffnen sich schnell die Luken zu den schlummernden, bösen Instinkten der Gesellschaft. Pegida ist eine Bewegung, die sehr viel mit Antisemitismus zu tun hat.

Natürlich geht es auch darum, antisemitische Tendenzen unter Verschluss zu halten und daran zu arbeiten, dass dieses Gift sich langsam verflüchtigt. Nur aufblühen darf Antisemitismus auf keinen Fall, denn das wirkt wie eine Frische-Kur. Folglich muss es das Bestreben sein, die Verbreitungswerkzeuge stumpf zu machen. Diese Werkzeuge, wozu in erster Linie die digitalen Medien gehören, sind Waffen, und Waffen entschäft man oder – man verbietet sie.

Ja, Frau Merkel, daran müssen wir arbeiten.