„Klopapier-Pandemie“, unter diesem Namen könnte die derzeitige Corona-Pandemie mal in die Geschichtsbücher eingehen. In der Tat: Das weltweit zu beobachtende Hamstern von Klopapier oder auch Mehl ist an Unsinnigkeit nicht mehr zu überbieten, aber es zeigt, was aus Menschen wird, wenn sie unmittelbar von einer Katastrophe berührt werden und dieselbe nicht mehr (genüsslich) vor dem TV-Schirm verfolgen können, so wie einen spannenden Thriller.
Doch wie kommt es zu diesen schrillen Begleiterscheinungen der Virus-Epidemie? Wer hat den verunsicherten Zeiggenossen eingebläut, dass sie ihren Keller mit Klopapier vollpacken müssen, wenn sie überleben wollen? Klar, man hat es nun eindeutig ausgemacht: Es waren auf keinen Fall die seriösen, öffentlichen Medien, es waren auch keine Politiker oder Wissenschaftler, nein, es waren die üblichen Brüllerinnen und Brüller in den „sozialen“ Medien, die sich lustvoll am Weiterverbreiten von Unheilmeldungen beteiligten. Man muss sich immer vergegenwärtigen, dass auch die Tweets und Posts ganz schnell viral gehen, mit mindestens derselben Agressivität wie das Corona-Virus. Und so haben wir zwei parallele Krankheitswellen: eine, an der viele Menschen physisch erkranken, mit einer überschaubaren Zahl an schweren Fällen; eine andere, die geisterhaft durch die digitale Unterwelt wabert und die Menschen zu irrationalen Handlungen anstachelt. Ich bin nicht sicher, dass die erstere die gefährlichere der beiden ist.
Nun hat die von der Digitalisierung der Welt überzeugte Menschheit sofort das Positive auch in der Krise entdeckt. Schulkinder, die notgedrungen in Zwangsferien gehen, können ja digital weiterlernen. Ach ja, geht natürlich. Man kann den Schülern Aufgaben übermitteln, einige der Aufgaben vielleicht auch kontrollieren. Das ist natürlich moderner als den Kindern einen vervielfältigten Aufgabenzettel mit in die Ferien zu geben. Na ja, ein bißchen Rückkopplung ist schon zu begrüßen; dazu kann das Netz durchaus beitragen. Aber darauf zu hoffen, dass ein Schüler über Tage und Wochen hinweg von sich aus emsig lernt und büffelt? Nee, das ist einfach nur blauäugig. Zu schnell ist der Lernstoff weggeklickt und das spannende Spiel gestartet.
Sicher, einige Schulen sind inzwischen so weit (glaub ich), dass sich die Schüler in ein schulinternes Netz einloggen können. Schulhof-Facebook sozusagen. Es sind jene Schulen, die das Abgleiten in digitale Parallelwelten bereits in ihrem Schulbetrieb realisiert haben, meisten angestachelt von einem oder zwei digital engagierten Kollegen, die es bei ihrem informationstechnischen Wissensvorsprung relativ leicht haben, die anderen Kollegen zu überzeugen oder einfach nur mitzunehmen. Über eine derartige Schulwelt, die in der Krise natürlich ganz groß herauskommt, will ich mich nicht weiter auslassen. Nur so viel: Alle Versuche, das Lernen in der Schulen weitgehend zu technisieren (zu „objektivieren“), sind bisher ziemlich fehlgeschlagen, weil sich herausgestellt hat, dass die wichtigste Voraussetzung für nachhaltiges, persönlichkeitsbildendes Lernen der unmittelbare Kontakt, also die gelebte Klassen- und Schulgemeinschaft ist.
Wenn also ein Journalist meint, man könne aus der Corona-Krise lernen und die aus der Not geborenen Lernmodelle mitnehmen in die Zeit nach Corona, dann ist das alles andere als hilfreich. Im Gegenteil, das Ende der Corona-Krise sollte auch deshalb so schnell wie möglich herbeigeführt werden, damit die Schüler wieder zu einem echten Lernen in der Gemeinschaft zurückkehren können.
Etwas besser ist schon die Lösung mit dem Home-Office. Hier geht es nicht um prägende Einflüsse fürs Leben, sondern ums schichte Erfüllen von klar beschreibbaren Aufgaben. Eine ganz andere Kategorie als die Bildung von Kindern und Jugendlichen. Allerdings ist auch das Home-Office keine Patentlösung. Zum einen lässt sich nur ein sehr begrenzter Teil von administrativen Dingen übers Netz abwickeln, zum andern verläuft der Betrieb zu Hause in vielen Fällen nicht ungestört, denn da sind ja noch die Kinder. Und diese fangen an zu nörgeln und zu quängeln, wenn sie im Haus bleiben müssen, verständlich. Verständlich auch, wenn Mama oder Papa ihre Kinder für wichtiger halten als die Datensätze im Computer.
Und auch dieses: Egal, ob Corona oder nicht, das Home-Office kann für die meisten Mitarbeiter nur eine Ergänzung sein. Die Leute brauchen den direkten Kontakt zu Kollegen, das „Scheiße!“ über den Schreibtisch hinweg, wenn es mal hakt; den schmutzigen Witz im Aufenthaltsraum während der Frühstückspause; das verbindende Grimassenziehen, wenn der missgelaunte Chef wieder aus dem Büro verschwunden ist. Auch ein gesundes Kollegium braucht Gemeinschaft und unmittelbare Kontakte. Die Leute, die bisher einen Großteil ihrer Arbeit zu Hause am Computer verrichteten, können ein Lied davon singen.
Nun ja, die Krise hat nun mal Einschränkungen auf ganzer Linie zur Folge. Da kann man wenigstens froh sein, wenn man genügend Papier zum Reinigen der körperlichen Rückseite hat, wenn man sich also vernünftig auf eine lange Quarantäne eingestellt hat. Ach so, einige Mitmenschen haben überhaupt kein Klopapier mehr, weil sie immer wieder auf leere Regale stoßen? Keine Panik, so schlimm kann ein schmutziger Po doch gar nicht sien, erst recht nicht, wenn die Reinheit des eigenen auf Monate und Jahre hinaus gesichert ist, oder? (Pardon, nur ein Versuch, mich in die beschränkte Denkweise der Hamsterkäufer hineinzuversetzen)
Ja, die Corona-Krise zeigt uns wieder einmal deutlich, was in den Menschen schlummert, wenn die Schutzfassade des geordneten bürgerlichen Lebens bröckelt und abfällt. Die Klopapier-Jagd ist nur ein relativ harmloses Massenphänomen; in der Vergangenheit hat es bei vergleichbaren Epidemien schon Progrome gegen Minderheiten gegeben, denen man die Schuld in die Schuhe schob. Juden oder religiöse Gruppen waren bevorzugte Opfer. Zwar hat sich die gesellschaftliche Einstellung zu Minderheiten und Fremden gebessert, aber die Aufwiegler und Hassprediger, die gibt es wieder (oder immer noch). Was diese Hetzer brauchen, ist eine Gesellschaft, die empfänglich für irrationale Motive ist. Die Klopapierjäger können einen da nicht optimistisch stimmen.
Nachtrag: Erneut stieß ich auf einige Leserbriefe, in denen ermutigt wurde, das digitale Lernen oder das HomeOffice als positive Option auch für die Zeit nach Corona in Betracht zu ziehen. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Die Maßnahmen sind in gewissem Umfang hilfreich in Zeiten der Krise, aber es sind Behelfsmaßnahmen, die auf keinen Fall dauerhaft das Geschehen bestimmen sollten, allenfalls als dosiert eingesetzte Ergänzung. Gerade nach einer notgedrungen kontaktarmen Phase kommt es darauf an, die persönlichen, direkten Kontakte wieder stark in den Vordergrund zu rücken; andernfalls erlahmt die Gesellschaft von innen her.
Ebenso möchte ich anmerken, dass die zur Zeit sinnvollen Grenzschließungen kein Dauerzustand werden dürfen, so sehr einige Politiker die „Vorteile“ von Grenzkontrollen auch betonen mögen. Europa ist das erste größere Projekt in der Menschheitsgeschichte, das zur Überwindung des nationalen Egoismus beiträgt. Wenn wir daran denken, welches Unheilt bereits von Nationalismus und Rassismus ausging, dann darf nichts einem Europa ohne Grenzen im Wege stehen. Grenzen als vorübergehender Notbehelf zu Zeiten des Coronavirus – mehr nicht.