Die andere Sicht

Beim Verfolgen der Sendung „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg traf ich zum ersten Mal auf eine Stellungnahme, die eine völlig andere Sicht auf die Corona-Krise offenbarte. Genau genommen ging es um die Maßnahmen zur Überwindung der Krise. Da äußerte ein Zuschauer im Netz, dass es doch viel besser sei, nicht die gesamte Gesellschaft unter Quarantäne zu stellen, sondern nur die Risikogruppe, also die älteren oder die mit Vorerkrankungen belasteten Mitbürger. Die anderen könnten die Coronawelle über sich ergehen lassen wie eine normale Grippewelle und ansonsten den Betrieb weitgehend normal aufrecht erhalten. Plasberg deutete an, dass dieser Vorschlag einigen Sprengstoff enthalte, und die Sache wurde von den Diskussionsteilnehmern in der Sendung auch nur ziemlich dünn kommentiert.

In der heutige Tageszeitung las ich von zwei weiteren Äußerungen, die in die gleiche Richtung gehen. Da ist zum einen der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel, der aufforderte, einmal „nachzudenken, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind“. Ebenso wichtig wie der Schutz der Risikogruppen sei eine Strategie, „wann und wie wir das öffentliche Leben in Deutschland wieder hochfahren“. Mit einer dauerhaften Quarantäne sei niemandem geholfen, und es sei zu befürchten, dass junge Menschen zunehmend gegen die Maßnahme rebellierten.

Auf derselben Zeitungsseite ein Bericht über eine Äußerung des texanischen Vizegouverneurs Dan Patrick, der forderte, ältere Bürger sollten in der Corona-Krise im Zweifel ihr Leben für die Wirtschaft opfern. Man dürfe nicht zulassen, dass die Bekämpfung des Virus schlimmere Folgen für die Enkelgeneration habe als das Virus selbst. Es sei zu überlegen, zum Schutz der Arbeitsplätze die Ausgangssperren aufzuheben, auch wenn dadurch das Leben vieler Senioren gefährdet sei.

Im Grunde weisen die drei Beispiele in dieselbe Denkrichtung; sie unterscheiden sich nur in der Direktheit und Offenheit der Formulierungen. In Texas, dazu noch unter der schützenden Dunstglocke eines Donald Trump, kann man als Republikaner schon mal in die Vollen ballern. Wirtschaftliches Denken: „Nun rechnet doch mal nach. Jetzt 10000 Tote durch Corona oder wahrscheinlich 12000 Tote demnächst durch Wirtschaftsschwäche, das ist doch ein gutes Geschäft. Gewinn: 2000. Hey, wo ist das Problem?“ Ganz anders Düsseldorf. Der Bürgermeister muss sich weitgehend an der Political Correctness orientieren und kann deshalb nur indirekt seine Ansichten anbringen, indem er auf drohende Sekundärgefahren hinweist.

Am klarsten hat sich noch der in Plasbergs Sendung zitierte Wortmelder geäußert, und so ganz kann man seine These nicht vom Tisch wischen. Immerhin vereint sie zwei Anliegen, nämlich den Schutz von Schutzwürdigen und gleichzeitig das Aufrechterhalten des gesellschaftlichen Betriebes und damit das Vermeiden von Pleiten, Entlassungen in die Arbeitslosigkeit, bedrohlichen Versorgungsengpässen usw.

Doch beim genaueren Hinschauen gibt es einige Punkte, die die forsch geäußerte These gehörig ins Wanken bringt. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass es unter den geforderten Umständen keine Zwangsquarantäne geben kann. Eine angeordnete Quarantäne setzt voraus, dass das Gemeinwesen geschützt werden soll. Wenn aber, wie verlangt, keine Maßnahmen zur Eindämmung des Virus mehr ergriffen werden sollen, geht es nur noch um das Wohl der Risikogruppe, und diesen Bürgern kann man höchstens nur noch empfehlen, zum eigenen Schutz die Wohnung nicht mehr zu verlassen. Die Anordnung von Quarantäne ergibt überhaupt keinen Sinn mehr.

Gehen wir mal davon aus, dass die Risikobürger die Gefahr erkennen und sich freiwillig ins Hinterzimmer der Gesellschaft begeben. Vorne, wo das Leben weiter pulsiert, nur unterbrochen von den zeitlich begrenzten Ausfällen der vom Virus infizierten „Leistungsträger“, geht alles annähernd weiter seinen Gang. Und wenn der Großteil der Leute die Krankheit hinter sich gebracht hat, dann ist die Sache schon weitgehend ausgestanden. Oder?

Um die Menschen zu beruhigen, haben Ärzte zu Beginn der Pandemie immer wieder betont, dass vor allem ältere und kranke Menschen betroffen seien. Im Umkehrschluss haben viele jüngere Mitmenschen gedacht, dass ihnen nicht viel passieren könne. Etwas Husten, leichtes Fieber, wenn’s hochkommt. Und dann wieder volles Leben. Meines Wissens gibt es bis jetzt noch keine verlässlichen Zahlen über das Alter der von Covid betroffenen Menschen, zumindest wurden sie noch nicht veröffentlicht. Geht es bei Jüngeren wirklich immer so glimpflich ab? Man müsste jetzt mal speziell die Nicht-Risikogruppe ins Auge fassen und klarstellen, wie stark sie von schweren oder tödlichen Krankheitsverläufen betroffen ist. Ich denke, die Lust auf Corona-Parties würde auf der Stelle vergehen.

Das ist noch nicht alles. Eine absolute Quarantäne kann es nicht geben, und wenn man das Virus ungebremst grassieren lässt, dann nützt auch der freiwilliger Rückzug in einen Schutzraum bald nichts mehr. Es mag vielleicht nicht im Denken der dynamischen Jung- und Mittelaltbürger verankert sein, aber auch die Schwachen und Gefährdeten brauchen Nahrung, müssen medizinisch versorgt werden usw. Je stärker das Virus im schutzfreien Raum verbreitet ist, desto stärker sickert es durch die unvermeidlichen Kontakte in die Quarantäne-Bereiche ein.

Nun das Entscheidende: Die Vertreter der Lasst-das-Virus-gewähren-Theorie gehen offenbar davon aus, dass sie die Covid-Erkrankung in gewohnter Grippe-Manier wegstecken können. Sicher, eine Reihe von tödlichen Verläufen, ansonsten aber bekannte Symptome, die in den allermeisten Fällen zu Hause im Bett behoben werden können. Nur ist das Corona-Virus keine normale Grippe. Die Ansteckungsgefahr ist unvergleichlich höher, und wenn es zu einem mittelschweren oder schweren Krankheitsverlauf kommt, dann geht es nicht mehr zu Hause. Dann braucht man Intensivbetreuung mit Beatmungsgeräten. Und wenn die Anzahl der Infizierten in die Millionen gehen würde, was die zwangsläufige Folge eines frei wirkenden Virus wäre, wenn selbst Hundertausende der Kranken nach Intensivbetten verlangen würden, dann hätten wir die totale Katastrophe – personell und ausstattungsmäßig. Und daran wäre nicht die Risikogruppe schuld.

Ja, und wenn dann noch das Virus stark in die Quarantänebereiche einbrechen sollte, was bei der enormen Masse der Infizierten unvermeidlich wäre, dann wäre die totale Überlastung des Gesundheitssystems perfekt, und es bliebe nur die Selektion, also die Entscheidung von Ärzten, wer behandelt wird und wen man gleich in die Sterbekammern schickt. Die Renten- und Pensionskassen würden enorme Überschüsse verbuchen können.

Bei allem Verständnis dafür, dass sich vor allem Kleinunternehmer berechtigte Sorgen um ihre Zukunft machen; bei allem Frust, den sie empfinden mögen, wenn die zugesagten Hilfen dann doch wieder in bürokratischen Hindernissen steckenbleiben: Der Kampf gegen das Corona-Virus kann nur gemeinsam gelingen. Und je konsequenter und entschlossener er von Anfang an geführt wird, desto eher ist er ausgestanden. Eine Spaltung kann die Situation nur verschärfen – für jeden Bürger.

Nachtrag (28. März):

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die einen differenzierten Umgang mit „robusten“ Bürgern und Risiko-Bürgern verlangen. Dass manche Menschen darüber entsetzt sind und von Diskriminierung sprechen, ist nur verständlich. Ich habe in dem Beitrag versucht, auf der objektiv-sachlichen Ebene zu bleiben und Wertungen zu unterlassen (wenn man mal von meinen sarkastischen Anmerkungen zu den Äußerungen des Texaners absieht). Ansonsten bin ich der Meinung, dass es genügend sachliche Gründe gegen eine einseitige „Altersquarantäne“ gibt. Dennoch will ich nun mit einer Wertung nicht hinter dem Berg bleiben: Ja, eine vorgeschriebene Quarantäne nur für Risikogruppen ist Diskriminierung, sogar in der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes.

Aber es gibt noch einen anderen Grund für diesen Nachtrag. Inzwischen hat man – hoffentlich – mit dem Märchen aufgeräumt, dass vor allem das Alter maßgeblich für die Schwere der Krankheit sei. Entscheidend sind vielmehr die Vorerkrankungen und die körperliche Verfassung. Dass gerade die Älteren in besonderem Maße in der Statistik auftauchen, liegt daran, dass ihr Allgemeinzustand nicht mehr der widerstandsfähigste ist und dass sie eben mehr Vorerkrankungen in ihrem Leben angehäuft haben. Gleichwohl können auch jüngere Infizierte in besonderem Maße betroffen sein – genau so gut wie ältere Menschen sich als Corona-resistent erweisen können. Die Geburtsurkunde als Maßstab – das geht an der Sache vorbei.

Diese Abhängigkeit vom allgemeinen Gesundheitszustand legt eine möglichst vollständige Erfassung der Gesundheitsdaten der Bürger nahe, um die Verbreitung des Virus wirkungsvoll eindämmen zu können. Damit begibt sich die Gesellschaft auf einen gefährlichen Weg, denn es geht dann ja nicht mehr um allgemein-statistische Daten, die wir jetzt schon haben, sondern um individuelle, namentlich bekannte Menschen. Der Schritt zu einem öffentlichen Umgang mit diesen hochbrisanten Personendaten ist nur ein kleiner.

Ich weiß nicht, in welchem Land es bereits punktuell praktiziert wird [1], jedenfalls gibt es dort eine App, mit der man sich anzeigen lassen kann, wo gerade infizierte Personen herumlaufen. Tolle Sache, um dem Corona-Virus beizukommen, gesellschaftlich jedoch eine Katastrophe, schlimmer als die Pandemie. Die Infizierten tragen so etwas wie eine Fußfessel mit sich herum, diejenigen, die den Kontakt mit Infizierten vermeiden wollen, betrachten ihre betroffenen Mitmenschen nur noch wie Gefahrenherde. Anders als bei einer allgemeinen Kontaktsperre werden hier ganz gezielt einzelne Personen stigmatisiert. Vor allem aber werden solche Mechanismen nicht einfach wieder abgeschaltet, wenn die Krise überwunden ist. Die Digitalisierung kann einige Probleme beheben, wenn sie aber völlig unkritisch eingesetzt wird, hat sie das Potenzial, Menschen in frei bewegliche Datensätze zu verwandeln. Das ist unmenschlich – eben digital.

[1] Wenn ich mich recht entsinne, war es einer der „vorbildlich innovativen“ baltischen Staaten.