Unkenntnis und Naivität

In normalen Zeiten klammern sich die Leute an die Digitalisierung, weil sie nach Komfort und Bequemlichkeit lechzen; jetzt, wo Corona grassiert, klammern sie sich ebenfalls an die Digitalisierung, wie Schiffbrüchige am Treibholz. Diesmal geht es ums Überleben, und wie das so ist, wenn Angst die Gesellschaft schüttelt, dann werden alle Bedenken in die hinterste Ecke gestellt. Nichts ist so abstrus, dass man es nicht in Erwägung ziehen wollte; nichts ist so schlimm, dass man es in der Krise nicht relativieren wollte.

Der Gedanke: Corona-Infizierte sollen mit einer Smartphone-App überwacht werden, um Kontaktpersonen ausfindig machen und Infektionsketten verfolgen und unterbrechen zu können. Sicher, ein wichtiges Anliegen, aber eine derartige App würde alles in den Schatten stellen, was die Digitalisierung bereits an Menschwürde und Grundrechten zerstört hat. Selbst bei Abgebrühten löst schon der Gedanke an ein solches Verfahren schieres Entsetzen aus, zumindest bei jenen, die sich ein Leben ohne Menschenwürde nicht vorstellen wollen. Da sich die Befürworter der Corona-App dieses Entsetzens bewusst sein, bringen sie relativierende Aspekte ins Spiel, nach dem Motto: alles halb so schlimm, wenn wir es richtig machen. Es sind im wesentlichen drei Argumente, die ins Feld geführt werden, um die Zweifel der Kritiker zu zerstreuen:

  1. Die anfallenden Daten sollen anonymisiert werden. (Natürlich!)
  2. Nach Beendung der Pandemie werden die Daten gelöscht. (Selbstredend!)
  3. Frau Merkel fügte noch hinzu, dass die Teilnahme an der Aktion auf freiwilliger Basis erfolgen solle. (Klar, halb so schlimm!)

Alle drei Argumente strotzen nur so von Unwissen über die informationstechnischen Zusammenhänge und/oder von Naivität. Vielleicht auch von gerissener Überredungstaktik.

  1. Die Daten lassen sich gar nicht anonymisieren. Das Verfahren basiert darauf, dass man einzelne, identifizierbare Smartphones verfolgt und deren Wege bzw. deren Kontakte zur Auswertung aufzeichnet. Sicher, dabei müssen keine Personennamen verwendet werden, es geht auch mit Hilfe von irgendwelchen IDs. Aber der Bezug zu den Nutzern der Smartphones bleibt bestehen, solange die Smartphones identifizierbar sind. Mit einem winzigen Eingriff, der nur wenige Minuten dauert, können jederzeit sämtliche Kennungen wieder auf persönliche Namen umgestellt werden. Anonymität ist nur vorgeschoben. – Noch etwas: Angenommen, das Covid-19-Verfolgungssystem hat gefährliche Kontakte ausgemacht, die darauf hinweisen, dass viele Menschen das Virus eingefangen haben könnten. Dann geht doch kein Weg daran vorbei, die betroffenen Personen zu benachrichtigen, zu warnen oder was auch immer. Und die Betroffenen sind keine IDs (die sind resistent), sondern Menschen. Dazu müsste auf der Stelle die Anonymität aufgehoben werden. Was soll also das Gerede von Anonymität?
  2. Wer nur ein bisschen hinter die Kulissen des Internets schaut, der weiß, dass sich Daten, die im Netz kursieren oder auf vernetzten Serversystemen gespeichert sind, nicht wirklich löschen lassen. Dazu ist das Speichersystem mit den vielfachen Redundanzen viel zu weit gefächert. Es gibt unzählige digitale HInterzimmer, in denen sich Daten unauffindbar verstecken lassen. Und Daten werden nicht schlecht, sie lassen sich vortrefflich horten und für künftige Big-data-Zeiten aufbewahren. Außerdem ist der Ertrag, den gesellschaftsrelevate Daten versprechen, viel zu groß, viel zu verlockend, als dass man eine wirkliche Löschung versprechen könnte. Gerade für zukünftige Strategien gegen eine Pandemie ist der Datenschatz aufbewahrenswert. – Es kommt noch hinzu, dass die Daten, von denen wir hier sprechen, nicht nur für die Gesundheitssysteme von Wichtigkeit sein, sondern auch für jene, die damit viel Geld verdienen. Bei der Gelegenheit sollte man sich mal wieder daran erinnern, dass alles, was mit dem Smartphone gemacht wird, brühwarm an die IT-Firmen in den USA gesandt wird. Die können die Daten links liegen lassen, sie behaupten auch, sie täten es, aber in Wirklichkeitl sind sie ganz bestimmt schlau genug, um solche fetten Datenbrocken erst mal auf Halde zu horten.
  3. Ach ja, die Freiwilligkeit. Mal ehrlich, glaubt irgendjemand ernsthaft, jemand mit nachgewiesener Corona-Infektion spaziert mit dem Smartphone durch die Gegend und lässt sich auf Schritt und Tritt kontrollieren, ob er anderen evtl. zu nahe kommt? Abgesehen davon, dass er ja sowieso zu Hause bleiben muss? Nee, es sind die Gesunden oder nicht nachweislich Infizierten, die mit Fußfesseln durch die Gegend marschieren. Ach ja, man kann ja nachträglich noch feststellen, mit wem jemand vor dem Test, also als Gesundgelaubter, Kontakt hatte. Klar, kann man, aber das geht nur, wenn jeder Gesunde lückenlos überwacht wird, so wie es teilweise in China gehandhabt wird. Ist das vielleicht sogar beabsichtigt? Ist die Corona-Krise ein willkommer Anlass, um endlich einen gehörigen Schritt weiter zu kommen, hin zu einem Überwachungsstaat?

Nein, die ganze Initiative ist ein faules Ei. Wahrscheinlich wird es nicht funktionieren, und wenn doch, dann haben wir die kuriose Situation, dass wir vielleicht Menschenleben retten, aber mit Mitteln, die dafür sorgen, dass das gerettete Leben nicht mehr lebenswert ist. Eine Wirtschaft lässt sich wieder in Gang bringen, wenn auch mit Entbehrungen (auf hohem Niveau), doch eine totale Überwachung zerstört die Seele der Gesellschaft, ohne Chance auf Wiederbelebung.

Leute, nun kapiert doch, verdammt noch mal, dass die Smartphones, wenn sie zum Corona-Tracking eingesetzt werden, nichts anderes als Fußfesseln sind. Ja, ja, es gibt Argumente für eine solche Grenzüberschreitung, aber seien wir doch nicht so naiv und gehen davon aus, dass die Maßnahme zu Ende sein wird, wenn die Krise vorbei ist. Was im Internet installiert wird, bleibt dort dauerhaft erhalten und kann jederzeit mit einem Klick wieder reanimiert werden. Es gibt ja keine Kräfte, die auf die Beendigiung der Maßnahme hinarbeiten. Bei einer Quarantäne ist das etwas ganz anderes, da sorgen schon die Betroffenen dafür, dass die Maßnahme zu Ende geht. Smartphone-Überwachung dagegen erfolgt schmerz- und entbehrungsfrei, eben smart, flutschig, gefühlsneutral.

In aller Deutlichkeit: Wenn wir – aus noch so triftigen Gründen – die Grundrechte partiell aushebeln, dann bleibt am Ende (das ist gar nicht so weit) nichts mehr davon übrig. Dann haben wir unsere Grundrechte Stück für Stück abgebaut und auf dem Abfallhaufen der Geschichte entsorgt. Gibt es einen besseren Grund für das Corona-Virus, lauthals zu jubilieren?