Niederlage – Befreiung – Erinnerung …

… das sind die Kernbegriffe, die Jahr für Jahr am 8. Mai, also dem Jahrestag der deutschen Kapitulation, die Ansprachen und Reden beherrschen. So auch in diesem Jahr, als der Bundespräsident vor dem Ehrenmal einige wichtige Sätze zu den Ereignissen vor 75 Jahren sagte. Keine Frage, es war nach meiner Auffassung eine gute Rede, und er hat einiges auf den Punkt gebracht. Natürlich kamen auch in dieser Rede die drei genannten Kernbegriffe vor. So wichtig diese Begriffe für die geschichtliche Einordnung sind, so begrüßenswert ist es ferner, mit klaren Formulierungen klare Standpunkte abzustecken. – Ich habe trotz allem einige Vorbehalte.

Niederlage. Eine Niederlage bedeutet immer auch den Verlust von irgendetwas, das Abtreten von irgendwelchen Werten an einen Besseren. Am 8. Mai 1945 wurde das Böse überwunden, wo ist da also die Niederlage? Wer die Kapitulation als Niederlage bezeichnet, identifiziert sich doch mit dem Bösen, ist also selbst böse, oder? Ach ja, einige Zeitgenossen meinen damit nur die Wehrmacht. Sicher, es gab in der Wehrmacht eine Reihe von aufrichtigen, mutigen Soldaten, aber die Wehrmacht als Ganzes war Bestandteil des Bösen. Und große Teile der Wehrmacht beteiligten sich an den verbrecherischen Aktionen, zum Beispiel im Rahmen von Massenerschießungen und Massakern. Nicht zuletzt ist der Fahneneid, auf den sich viele Wehrmachtsangehörige beriefen, äußerst zweifelhaft, da er ohne moralische Abwägung einem Verbrecher gegenüber geleistet wurde. Das Verbrechen war schon im Vorfeld erkennbar!

Befreiung. Hierbei beziehen sich viele Zeitgenossen (weltweit) auf die Rede Richard von Weizsäckers 1985, als er die Kapitulation als Befreiung bezeichnete. Keine Frage, die Welt wurde von den Nazis befreit, und auch die Deutschen wurden von einem Übel, nämlich dem Nationalsozialismus befreit. Absolut in Ordnung, da von Befreiung zu reden. Und doch drängt sich mir eine Frage auf: Ist Befreiung nicht die Beendigung eines Zustandes, der als unfrei, beengt oder qualvoll empfunden wird? Sicher traf das auf eine große Zahl von Deutschen zu, aber stand nicht der größere Teil der Deutschen hinter Hitler und seiner Ideologie? Hat nicht das deutsche Volk dieser Bande von Dreckskerlen zur Macht verholfen? Haben nicht deutsche Bürger frenetisch gejubelt, als Göbbels in der Endphase des Nationalsozialismus den „totalen Krieg“ herausbrüllte? Befreiung? Ja, ja, für viele Deutsche, aber ein gefährlicher Begriff, wenn man damit das Wesentliche erklären will.

Erinnerung. Erinnerung ist gut, Erinnerung ist wichtig, ja notwendig. Die Erinnerung darf nie nachlassen. Wir brauchen alle Formen der Erinnerung, angefangen von Erinnerungsstätten über einen lebendigen Geschichtsunterricht in den Schulen bis hin zu eindringlichen Dokumentationen in den Medien. Holocaust-Überlebende haben wiederholt angemahnt, die Erinnerung an die Gräuel wachzuhalten. Dennoch möchte ich eine Anmerkung zur Erinnerungskultur machen: Es besteht die Gefahr, dass wir es bei der Erinnerung belassen, wenn wir sie zu stark in den Vordergrund rücken. Jährliche Gedenkfeiern, jährliche Ermahnungen, jährliches Entschuldigen und wohltuendes Verzeihen, regelmäßiges Äußern von Mitgefühl mit den Opfern – all das ist wichtig, aber zu wenig. Wir müssen vor allem die Geschichte aufarbeiten, und zwar aus der Sicht der Täter. Und wir dürfen uns nie zurücklehnen und die Aufarbeitung als beendet erklären. Das ist sie nämlich nicht, und das wird sie nie sein. Nie.

Wenn die Naziverbrechen wirklich aufgearbeitet worden wären, dann hätten wir nicht die erneuten Probleme mit Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Zumindest wüssten wir, wie wir diesen Problemen wirksam begegnen könnten. Eine wirkliche Aufarbeitung verlangt, dass wir die Ursachen für derartige Verbrechen nicht nur in den Geschichtsbüchern aufstöbern, sondern vor allem in der aktuellen Tätergesellschaft wahrnehmen und bekämpfen. Mit „aktueller Tätergesellschaft“ meine ich alle Gesellschaften der Welt, denn die „guten“ Nichtdeutschen dürfen sich nicht damit herausreden, sie hätten ja keinen Anteil an den Verbrechen gehabt. Aufarbeitung verlangt, dass sich jedes Land gegen Strömungen absichert, die zu ähnlichen Verbrechen führen können wie in Deutschland 1933-1945.

Anfälligkeit gegen Propaganda, Anfälligkeit gegen populistische Maßnahmen, Mechanismen zur Meinungsbeeinflussung von Massen, Angst vor dem Fremden, triebhafe Suche nach Verantwortlichen für jedes Missgeschick, grobe Ungerechtigkeiten, extreme soziale Ungleichgewichte, Entstehung von Herdentrieben usw., das sind nur einige der Aspekte, um die es bei der Aufarbeitung geht. Und wenn wir uns in den verschiedenen Ländern (auch in Deutschland) umsehen, dann merken wir, dass selbst die als sicher erscheinenden, demokratischen Gesellschaften in hohem Maße gefährdet sind. Nie wieder? Sicher, so soll es sein. Doch wenn wir uns nur erinnern und uns in trügerischer Sicherheit wägen, dann wird es wieder passieren. Nein, nicht so schlimm wie in der Nazizeit, aber schlimm genug, um den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Beschleunigung der negativen Vorgänge durch die Digitalisierung wird zur Folge haben, dass die Zeit für Gegenmaßnahmen knapp wird, verdammt knapp.