In meinen Bücherregalen stehen mehrere Fotobücher: Sachbücher über Fototechnik, aber auch Bildbände von bedeutenden Fotografen. Immer wieder faszinieren mich die Bilder aus der SW-Zeit, bei weitem nicht so technisch perfekt wie die Produkte der Digitalfotografie, und doch vielfach Meisterwerke. Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Gordon Parks, Chris Killip, das sind einige der Fotografen, deren Bilder mich immer wieder aufs neue ansprechen. Und natürlich darf Sebastiao Salgado in dieser Reihe nicht fehlen. Salgado, der viel menschliches Leid dokumentierte, daran fast zerbrach und sich selbst schließlich wiederfand, indem er die Welt in ihrer ursprünglichsten und natürlichsten Form fotografierte, an Stellen, die noch weitgehend von Technik und einer von Technik beherrschten Wirtschaft verschont geblieben sind. Sein Werk „Genesis“ fehlt natürlich nicht in meiner Büchersammlung.
Gelegentlich blättere ich auch in einem Bildband mit World-Press-Fotos von 1955 bis 1995. Es sind Bilder, die sicherlich nicht alle gleichermaßen ansprechen, doch gerade in den Unterschieden bezüglich Bildaussage und Motivwahl zeigt sich die Vielfältigkeit der menschlichen Gesellschaft, auch die verschiedenen Formen der Probleme, Glücksmomente und – Gräuel. Wer kennt nicht das Foto von dem schreienden, kleinen Mädchen, das im Vietnamkrieg vor den Napalmbomben flieht und sich dabei die brennenden Kleider vom Leib gerissen hat? Oder das Foto, das in bedrückender Authentizität die Erschießung eines Vietkong-Verdächtigen gerade in dem Moment zeigt, in welchem der Abzug des Revolvers betätigt wird. Überhaupt war der Vietnam-Krieg wiederholt der Schauplatz. Aber auch Bilder aus Afrika, von verhungernden Kindern, von Frauen, die ihren Säuglingen verzweifelt nur ihre zu Hautlappen erschlafften, leeren Brüste bieten können. Viele Bilder, die aufwühlen – sofern man überhaupt bereit ist, sich auf die Fotos einzulassen.
Ich weiß nicht, gibt es die World-Press-Fotografie überhaupt noch? Macht diese fotografische Verdichtung in Zeiten, wo die Welt in Bildern und Videos förmlich ertrinkt, überhaupt noch Sinn? Gibt es eigentlich noch so etwas wie eine authentische, dokumentarische Fotografie, heute, wo Fotos mit Photoshop und Co. beliebig gestaltet, verfälscht, zusammengebastelt werden können? Oder sind Fotos nur ein Teil des Grundrauschens in einer hypermedialen Scheinwelt? Und wenn die Fotografie nicht mehr dazu beitragen kann, auf Probleme aufmerksam zu machen, den Menschen das vor Augen zu führen, was sie entweder nicht sehen können (oder wollen), was tritt an die Stelle der Dokumentarfotografie? Oder entsteht hier eine Loch, das schnell mit Halbwahrheiten und Lügen vollläuft?
Wie dem auch sei, es gibt eine gute Übung, die digitale Oberflächlichkeit zu überwinden. Vorschlag: Einfach mal Fotos, die nach persönlicher Auffassung einen hohen dokumentarischen Gehalt haben, sammeln und ggfs. mit Freunden drüber diskutieren. Ich kann an dieser Stelle gleich den Anfang machen und nominiere zwei Bilder für das private World-Press. Leider kann ich die Fotos hier nicht vorstellen, weil das Urhebergesetz die Veröffentlichung aller Fotos verbietet, die man nicht selber gemacht hat. Aber die beiden Bilder lassen sich gut beschreiben.
Das eine Bild zeigt einen Ausschnitt aus der Militärparade in Peking 2019. Ein großer Block marschierender Soldaten. Die Kamera erfasst die Szene schräg von oben, so dass die Reihen diagonal erscheinen. Es wird nur ein Ausschnitt der Marschgruppe gezeigt, an keiner Stelle ist einer der vier Ränder zu sehen, und doch zähle ich 81 Soldaten; die gesamte Kolonne umfasst ein Mehrfaches. Eine derartige Perfektion hatte ich vorher nicht für möglich gehalten. Es ist mehr als hundertprozentiger Gleichschritt. Alle schauen exakt in die gleiche Richtung, alle halten das Gewehr im selben Winkel, alle haben dieselbe Handhaltung, dieselbe Kopfhaltung. Es ist überhaupt kein Unterschied zwischen den Soldaten zu erkennen, selbst die Gesichter scheinen gleich zu sein. Natürlich ist auch die Ausrichtung einwandfrei, ich hab mal ein Lineal angelegt – keine Abweichung.
Auch das andere Bild zeigt eine chinesische Personengruppe. Diesmal ist es eine studentische Gruppe, vielleicht auch eine Schülergruppe der Oberstufe. Blick in den Unterrichtsraum. Alle sind gleich angezogen (Schuluniform?), aber so, dass wirklich kein individuelles Merkmal zu erkennen ist. Jeder sitzt an seinem Tisch, schaut nach vorne, hat beide Hände auf den Tisch gelegt. Die Körperhaltung ist nicht straff-disziplinarisch wie im ersten Bild, sondern eher locker und lässig. Aber alle Personen zeigen dieselbe Form von Lässigkeit, keiner hat zum Beispiel die Beine übereinandergeschlagen oder sitzt etwas schräg auf dem Stuhl. Und: Alle sind maskiert, tragen also den Corona-Mundschutz. Auch diese Masken sind natürlich alle gleich, bedecken bei allen Personen denselben Teil der Nase.
Beide Bilder wurden von chinesischen Staatsmedien verbreitet. Im ersten Fall soll militärische Macht gezeigt werden, im zweiten Bild geht es darum, der Welt zu präsentieren, wie souverän China mit der Corona-Pandemie umgeht. Ich denke, die Chinesen zeigen solche Bilder mit einem gewissen nationalen Stolz.
Aber ich bin kein Chinese, und ich empfinde eine kaum noch zu unterdrückende Abscheu, wenn ich solche Bilder sehe. Sie dokumentieren etwas ganz Schlimmes und sind deshalb geeignete Kandidaten für eine World-Press-Nominierung. Lassen wir mal die Perfektion beiseite und überlegen, was dahinter steckt. Menschenmassen, die mit äußerster Präzision funktionieren, wie präzise gefertigte Zahnräder in einem riesigen Getriebe. Menschen, die im Gleichschritt agieren, sowohl in der militärischen Marschkolonne als auch in Schule und Universität. Menschen, die nicht aufmucken, weil sie auch gedanklich dem staatlichen Kurs folgen. Menschen ohne individuelle Prägung, also ohne Charakter. Freiheit (z.B. im wirtschaftlichen Bereich) gibt es nur in exakt zugewiesenen Freiräumen, so wie Wildtieren in großzügig bemessenen Freigehegen. Und auch hier: Kontrolle. Abweichler, die es natürlich auch in China gibt, haben keine Chance.
Nun sind die Bestrebungen, Menschenmassen zu kontrollieren und entsprechend den staatlichen Zielen zu steuern, zwar in China besonders extrem ausgeprägt, aber es gab und gibt sie auch anderswo. Hitler und Göbbels waren Meister im Beherrschen von Menschenmassen, und sie kannten auch die Werkzeuge, um die Ziele zu erreichen: „Gleichschaltung“ von Medien und Justiz, Propaganda, Verdrehung von Tatsachen (heute sprechen wir von „Fake-News“). Müssen noch weitere Beispiele aus der Jetztzeit folgen? Ich denke nicht, nur einige Länder, in denen Wählermehrheiten zweifelhafte Führungspersonen zur Macht verhelfen: Türkei, Ungarn, Brasilien, USA, Polen, Russland (mit Abstrichen) …
Die schlimmste Methode zur Gleichschaltung von Massen ist zweifellos die Indoktrination von Bürgern, um ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihr Wollen zu programmieren. Hierin hat China bereits Trdadition, denken wir an die Gehirnwäsche unter Mao Tse Tung. Damals wurden Querdenker eingesperrt und mit Gewalt willenlos gemacht. Heute hat man sanftere und umso wirkungsvollere Methoden, nämlich die der digitalen Kontrolle. Man muss einen Abweichler heute nicht mehr einsperren, es reicht, ihn digital einzufangen und ihn sanft, smart und dennoch massiv zu bearbeiten, bis er erkennt, wie glücklich doch das Leben ist, wenn man den Weisungen des großen Führers Xi Jinping folgt.
Das alles könnte man ja dahingehend abtun, indem man diese Entwicklung auf China begrenzt und den freien Ländern soviel Widerstandskraft zutraut, dass sie die Gefahren noch rechtzeiig abwenden können. Das setzt aber voraus, dass die Gefahren erkannt werden, und da scheint es gehörig zu hapern. Eine blinde Digitalgläubigkeit, die sich weltweit breit macht, zeigt nur, dass die Leute die drohende Zerstörung der demokratischen Strukturen, die fast ausschließlich vom Netz ausgeht, überhaupt nicht wahrnehmen. Deshalb sind die beschriebenen Bilder nach meiner Auffassung so extrem bedeutungsvoll. World-Press-Fotos in der digital gesteuerten Welt.