Fleisch

Nach Tabak, Alkohol, Zucker, Salz und Fett hat man ein neues Gift entdeckt: Fleisch. „Ungesund!“ warnen die Ernährungstheoretiker. „Verbrechen an den Tieren!“ rufen diejenigen, die sich auf eine hingebungsvolle Liebe zur Schöpfung einlassen. „Ekelhaft!“ empören sich diejenigen, die nicht fassen können, wie man erhitzte Tierleichen verzehren kann. „Zerstörung der Umwelt!“ kritisieren diejenigen, die ständig angstvoll beobachten, wie Kühe Methan in die Atmosphäre furzen, wie Schweine und Federvieh den Boden mit Nitrat vollscheißen und -pissen. Und jetzt noch Corona. „Eine durch und durch verwerfliche Industrie, die ganze Fleischindustrie!“ wissen wir nun alle. Wir alle, die wir zu ignorant waren, um gegen die Missstände rund um Leiharbeit und Subunternehmertum aufzubegehren. Oder – genau so schlimm – die wir einfach nicht die Zustände hinter den Kulissen beachtet haben. Immer nur das sehen, was uns vordergründig Vorteile verschafft, ansonsten Augen zu.

Aber zurück zum Fleisch. Angesichts dieser Warnungen und Belehrungen gibt es nur eine Erkenntnis: Fleisch ist vom Teufel. So richtig bewusst wird diese Tatsache aber erst, seit die Menschheit mit Feuereifer dabei ist, der konkret-biologischen Welt zu entrücken, sich auf eine digital-abstrakte Stufe, die von Messwerten und Daten kontrolliert wird, zu erheben. Da ist allerdings für mich kein Platz, denn irgendwie gibt es in mir eine unüberwindbare Sperre, mich in einen Datensatz umformen zu lassen. Und so bin ich auch resistent gegen die moralischen Ansprüche der modernen, digital-analytischen Welt, auch was die Versorgung mit Nahrungsenergie betrifft. Kurz: ich werde weiterhin Schnitzel und Würstchen mit Genuss verzehren. Jeden Tag Fleisch? Ach nee, das gab es bei uns noch nie, aber zweimal, dreimal, mitunter viermal die Woche, das empfanden und empfinden wir als wohltuend und angemessen.

Dass es Leute gibt, die zu viel Fleisch konsumieren, will ich gar nicht in Abrede stellen, denn etwas Wahres ist an den Argumenten der Fleischgegner sicherlich dran. Die Erzeuger, die Bauern, stöhnen, dass sie viel zu billig produzieren müssen, und die Käufer werden als die eigentlich Schuldigen angeklagt, weil sie nicht bereit sind, mehr für das Fleisch zu bezahlen. Wie denn? frage ich mich und habe die Anzeigetafel des Supermarktes vor Augen, auf der appetitlich rotes Fleisch in allen Preiskategorieren angeboten wird: 0,99 Euro – 1,99 Euro – 2,99 Euro – 3,99 Euro – 4,99 Euro. Vielleicht noch 7,99 Euro für einen extra großen Braten. Oder ein Sonderfall: 2,49 Euro für ein Sonderangebot, das normalerweise 2,99 Euro kosten würde. Ich habe mal versucht, 2,01 Euro mehr loszuwerden, weil mir der Preis zu gering vorkam. Das entsetzte Gesicht der netten Dame hinter der Fleischtheke war köstlich anzusehen. Na ja, wir fanden keine Möglichkeit der Verrechnung, und so blieb es bei 3,99 Euro. Wichtig: unter 4 Euro.

An der Preiskritik ist allerdings einiges dran. Fleisch ist definitiv zu billig, und wenn es das Doppelte, besser noch das Dreifache kosten würde, würden alle profitiern: die Bauern, die nicht mehr so stark auf Masssentierhaltung angewiesen wären und dennoch einen höheren Gewinn erzielten; die Tiere natürlich; die Umwelt, aus Gründen, die ich oben schon andeutete; die Verbraucher, weil die Fleischqualität steigen würde. Und weil sie zu einer bewussteren und deshalb höherwertigen Lebensweise angeleitet würden. Usw. Vorteile über Vorteile, und zwar für alle, und doch nicht durchsetzbar, weil die wahrhaft Schuldigen an den entscheidenden Schnittstellen hocken und zu mächtig sind, um auch nur einen Zentimeter nachzugeben. Es sind die Handelsketten, also Rewe, Aldi, Lidl und Konsorten. Durch die Verklumpung des Lebensmittelhandels zu wenigen Kartellen hat dieser Handel enorme Macht bekommen.

Und die Ketten nutzen ihre Marktmacht brutal, nicht nur in Deutschland. Selbst aus Spanien kommen Hilferufe, weil die Landwirte unter dem Druck deutscher (!) Discounter so preiswert produzieren müssen, dass teilweise ihre Existenz bedroht ist. Im finalen Machtkampf dieser wenigen Handelsmonster ist jedes Mittel recht. Sogar gewinnbringende Symbiosen wie die Zusammenarbeit mit dem Bäcker am Eingang werden brutal zerstört, indem man Backautomaten im Supermarkt in Betrieb nimmt. Müssen doch wegzukriegen sein, die lästigen Konkurrenten unter gleichem Dach, oder? Die Machtgier der Handelsketten walzt alles platt, was nur irgendwie hinderlich sein könnte, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne gesellschaftliche Skrupel, ohne marktwirtschaftlichen Ehrencodex.

Aber wenn wir uns schon auf die Suche nach Schuldigen begeben, müssen wir noch einen Schritt weiter hinter die Kulissen schauen. Die Handelsketten? Sicher, sie agieren zerstörerisch und rücksichtslos. Aber kann man, um eine Parallele zu bemühen, einen Tiger zur Verantwortung ziehen, wenn man seine Gehegetür im Zoo öffnet und einfach nur beobachtet, wie sich das Tier fortan von Streichelzoo-Ziegen und Tierpflegern ernährt? Meine Güte, die perversen Fleischpreise sind doch nur ein Hinweis (von vielen), dass die gesamte Wirtschaft, der gesamte Handel etliche Faulstellen aufweist. Nein, Herr Lindner, die Wirschaft richtet es nicht, sie gehört an die Leine genommen. Und die Aussage, dass ein Privatunternehmen im Vergleich etwa zum Staat der bessere Wirtschafter ist, gilt nur, wenn man ausschließĺich den Gewinn, angeheizt durch gigantische Manager-Gehälter und Boni, im Auge hat. Selbst das Argument, dass die Wirtschaft ja Arbeitsplätze bereitstellt, ist nur formal zutreffend: Diejenigen, die dieses Argument gebetsmühlenartig anbringen, denken nicht an die Mitarbeiter, sondern reduzieren sie auf ihre Arbeitskraft, austauschbar und gewinnbringend. Und damit sind wir wieder bei der Fleischindustrie. Auch das Übel schließt sich zu einem wirkungsvollen Funktionskreis.