Tagesthemen gegen 22:30 Uhr. Natürlich ging’s auch diesmal um die Corona-Krise. Ein ausführlicher Beitrag über die allmähliche Öffnung der Schulen. Ein Beitrag, in welchem Schüler, Eltern und Lehrer deutlich machten, wie ersehnt und wichtig doch der reale Unterricht in den Schulen ist („Präsensunterricht“). Das „Homeschooling“ (Scheißwort) wurde mehr oder weniger deutlich als das entlarvt, was es ja ist: Ersatz und Notbehelf. Besser als nichts, aber nicht viel besser als nichts. Ich will’s mal so formulieren: Es ist wie eine Kerze, die man bei einem Stromausfall anzündet.
Und so war ich voll freudiger Erwartung, als Caren Miosga einen Kommentar zu dem Thema ankündigte. Endlich wird es mal deutlich auf den Punkt gebracht, hoffte ich. Und dann die kalte Dusche. Die Kommentatorin, irgendjemand aus der süddeutschen Medienszene, ermahnte, doch endlich die Digitalisierung voranzutreiben. Sie forderte insbesondere die Digitalsierung der Schulen, und zwar so, dass alle Schüler gleiche Chancen haben. Also „Endgeräte“ (ich glaube, damit waren Computer gemeint) für jedes Schulkind usw. Kennen wir ja, das ist in etwa das, was die Politiker in ihrem „Digitalpakt für Schulen“ zusammenschnürten. Die Penetranz, mit der die kommentierende Dame aus dem Süden die Digitalisierung forderte, war für mich so unerträglich, dass ich kurzerhand nach der Fernbedienung griff und die Kiste ausschaltete.
Unerträglich ist aber vor allem die Einstellung, die dieser Kommentar zum Ausdruck brachte und die leider weit verbreitet ist, vor allem unter solchen Zeitgenossen, die in Sachen Pädagogik und Didaktik eher als Laien zu betrachten sind. Wenn irgendetwas in unserer Gesellschaft nur sehr behutsam und zurückhaltend digitalisiert werden darf, dann ist es der Schulbetrieb. In Schulen geht es nicht nur ums Lernen, sondern auch (sogar vor allem) um Bildung, um Charakterstärkung, um Urteilsvermögen usw. Schule ist – bei allen menschlichen Schwächen, die dort ebenfalls zutage treten – ein lebendiger Bildungsraum, in dem das unmittelbare Miteinander unersetzlich ist. Schule ist nicht einfach übers Internet zu betreiben, und selbst das, was auf niedrigem Niveau auf digitalem Wege praktikabel ist, nämlich die reine Wissensaneignung, sollte nicht überschätzt werden. Ältere Schüler mögen einigermaßen damit zurecht kommen, aber die sind dann meistens auch imstande, sich im reinen Selbststudium weiterzubilden, ohne Digitalvernetzung.
Was mich besonders aufrüttelte, war die Forderung der Kommentatorin, die Unterschiede bei den digitalen Lernchancen durch schnelle Investitionen zu beheben (siehe oben, „Endgeräte“). Im normalen Schulbetrieb gibt es solche Ungleichheiten gar nicht, sie werden doch erst durch die Digitalisierung erzeugt. Und jetzt mal logisch gedacht, Frau Kommentatorin: Wenn es Sie stört, dass einige Schüler bessere Digitalchancen als andere haben, warum plädieren Sie dann für eine zurückhaltendere, nachhaltigere Digitalisierung der Schulen?
Natürlich gehört die Digitalisieurng in die Lehrpläne, aber dabei darf es nicht darum gehen, wie man ein Smartphone oder irgendein „Endgerät“ bedient, denn das können die Schüler bereits besser als die Lehrer. Es muss darum gehen, das Wesen der digitalen Vernetzung mit seinem Nutzen und seinen Gefahren zu begreifen und somit zu einem verantwortungsvollen Verhalten im digitalen Netz zu erziehen. Vernünftige Vorbilder gibt es ja kaum. Mütter, die einen Kinderwagen vor sich herschieben und die ganze Zeit aufs Smartphone starren; inhaltsleeres Gebrabbel, Hassbeiträge und Lügen in den sozialen Medien; Kriminalität und sexuelle Verrohung, das ist doch die Realität, die einem ständig begegnet, wenn man digital unterwegs ist. Hier müssen Bildungsziele ansetzen, denn das, was an angenehmen Wohltaten aus dem Netz herausgeholt werden kann, das haben die Schüler schon längst raus. Ihre Eltern größtenteils auch. Und jetzt in aller Deutlichkeit: Ob die angedeuteten Bildungsziele mit einem smarten Board oder mit Tafelkreide angestrebt werden, ist sowas von scheißegal.
Nee, Frau Kommentatorin, die Corona-Krise taugt nicht dazu, die Digitalisierung voranzutreiben. Sie zeigt nämlich nicht die Stärken der Digitalisierung auf, sondern ihre strukturellen Schwächen. Um das zu sehen, darf man allerdings nicht blindlings hinter Zeitströmungen herhecheln. Oder gehören Sie zu den Menschen, die bereits ihr Urteilsvermögen den digitalen Algorithmen geopfert haben? Wie so viele Leute?
Und noch eine Beobachtung: Es fällt direkt auf, dass Hinz und Kunz genau wissen, wie es in der Schule vor sich zu gehen hat. Am seltensten äußern sich diejenigen, die am ehesten für solche Einschätzungen zuständig sind, nämlich die ausgebildeten Lehrer, die noch im Schulgeschehen aktiv sind (letzterer Nebensatz wegen Abgrenzung zu politisch agierenden Vertretern der Lehrerverbände). Und wenn mal ein Lehrer zitiert wird, dann ist es einer der progressiven Digital-Befürworter, dessen persönliches Engagement besonders geschätzt wird. Die große Mehrzahl der Lehrer ist schweigsam und uinteressant für Medien und wird im allgemeinen als wenig innovativ, ja sogar lernunwillig oder lernunfähig dahingestellt. Aber sie machen ihre Arbeit meistens ordentlich oder gut, besser als jener Mathelehrer, der in einem groß angelegten Zeitungsartikel (IVZ) schwärmerisch von seinen innovativen Digitalaktionen berichtet. Er hat sogar eine pädagogische Erklärung parat: Moderne Didaktik baue vor allem auf den Erwerb von „Kompetenzen“, und dazu seien die digitalen Wege bestenst geeignet. Wahrscheinlich hat dieser tolle Lehrer gefehlt, als es im Studium um die wichtigste Kompetenz ging, ohne die nichts läuft, nämlich die Sozialkompetenz. Die lässt sich allerdings nicht ins Internet pressen oder mathematisch herleiten.