Brennglas Corona-Krise

„Die Corona-Krise hat auch etwa Gutes, denn sie legt gnadenlos die Schwächen der Gesellschaft frei.“ Oder: „Die Corona-Krise ist wie ein Brennglas, in dem deutlich zu erkennen ist, was falsch läuft in Deutschland.“ So oder ähnlich hört und liest man immer wieder. Mit den Schwachstellen sind vor allem die mangelnde Digitalisierung oder – nach dem Tönnies-Skandal – die Missstände in der Fleischindustrie gemeint. Ob die nur zaghaft voran getriebene Digitalisierung wirklich eine Schwachstelle der Gesellschaft ist, will ich jetzt mal dahingestellt lassen. Vor allem die Digitalisierung der Schulen ist durchaus diskussionswürdig. Eindeutig dagegen ist die Situation in der Fleischindustrie, und nicht nur dort, denn Leiharbeit über Subunternehmer ist eine Form modernen Sklaventums. Und wenn Unternehmerverbände und Industrie nachdrücklich darauf bestehen, dass es ohne Leiharbeit nicht geht, dann muss wohl das gesamte Wirtschaftssystem in Frage gestellt werden, dann muss es so umgeformt werden, dass auf Sklavenarbeit verzichtet werden kann. [1]

Doch bei aller Dankbarkeit gegenüber dem „Aufklärer“ SARS-CoV-2: wir sollten nicht den Fehler machen, die Infektionszahlen in den Fleischbetrieben als Beleg für die Missstände in der Schlachtindustrie heranzuziehen. Die Missstände beziehen sich auf die entwürdigende Behandlung von Arbeitern aus dem Ausland, egal ob Corona oder nicht. Als die Leiharbeit im großen Stil etabliert wurde, konnte man das Virus noch gar nicht kennen.

Und wir sollten nicht den Fehler machen, Schwächen und Lücken beim Home-Schooling (Scheißwort) als schulische Systemschwächen dahinzustellen. Schulen können und dürfen nicht im Hinblick auf eine nicht vorhersehbare Pandemie konzipiert werden. Die Corona-Krise eignet sich schlichtweg nicht als Begründung für mehr Digitalisierung. Das Maß der Digitalisierung in den Schulen muss unabhängig von Sekundärereignissen wie Corona bestimmt werden.

Trotzdem hört man in der Krise hier und dort den tiefen Seufzer: „Sehr ihr, wir haben’s doch immer schon gesagt.“ Klar, menschlich verständlich und politisch plausibel. Und dennoch falsch.

[1]  Das moderne Sklaventum ist nicht zuletzt deswegen so verführerisch, weil es sich hervorragend digitalisieren lässt. Unpersönlichkeit digitaler Strukturen – besser lassen sich Gewissensbisse kaum unter den Teppich kehren. Das heißt, es meldet sich erst gar nicht, das schlechte Gewissen, das sich nicht ohne weiteres digitalisieren lässt, nicht mal mit künstlicher Intelligenz. Verkäufliche Arbeitskraft anstelle von Mitarbeitern, das ist der entscheidende Unterschied zu einem menschenwürdigen Wirtschaftssystem. Und noch einmal: Es geht nicht nur um die Fleischindustrie. Betrachten wir doch mal die Bedingungen bei den „Mitarbeitern“ der Deutschen Glasfaser im „Kundendienst“. Oder schauen wir einem Paketzusteller über die Schulter und fragen ihn mal, wieviel Minuten und Sekunden Zeit ihm bis zum nächsten Paketkunden bleiben. Auf dem Display seines mobilen Terminals ist alles mit äußerster Präzision vorgegeben. Sklavenwächter mit digitaler Peitsche. Und fragen wir doch einmal die Mitarbeiter einer Leiharbeitsfirma, wievel ihrer Leiharbeiter ihnen persönlich bekannt sind.

Unter dem Sammelbegriff „Arbeitnehmerüberlassung“ findet sich eine Reihe von Synomymen oder Spezialformen, die alle eines gemeinsam haben: Sie beschreiben eine zynische Missachtung von Menschenwürde. Nur ein Beispiel: „Personalleasing“. So wie Autoleasing. Menschen, Autos – alles nur digitale Instanzen von gewinnbringenden Produktklassen – verkäuflich und abwrackfähig.