Vor etlichen Jahren war mein Verhältnis zur FDP noch weitgehend ungetrübt. Immerhin war die Partei für mich wählbar, sozusagen als Ausweichmöglichkeit, wenn in meiner Stammparteil mal wieder zu viel Mist fabriziert wurde. Zu der Zeit bestimmten noch große Namen das Geschehen in der F.D.P: Heuss, Genscher, Baum usw. Mit Westerwelle, dem Vetreter der „Besserverdienenden“, war dann Schluss mit der FDP. Finito, endgültig. Freiheit hat sehr viele Gesichter, auch edle, aber unbeschränkter Wirtschaftsliberalismus ist eher eine Fratze.
Und nun der Lindner. Neulich fragte mich ein guter Bekannter nach meinen politischen Ansichten. Ich erklärte ihm, dass ich es kurz machen könne. Er solle sich einfach anhören, was der FDP-Lindner so vertrete, und meine Ansichten seien genau entgegengesetzt zu denen des Herrn Lindner, in jeder Beziehung. In jeder. So kann einem also auch ein Andersdenkender Orientierung geben, man muss nur den Maßstab um 180° drehen.
Jetzt ist aber dieses vermeintlich eindeutige Gefüge durcheinander geraten, denn der Linder hat verlauten lassen, dass die Corona-Ladenbeschränkungen (Quadratmeter pro Kunde usw.) ein „Verödungsprogramm für die Innenstädte“ und ein „Programm, die Marktanteile von Amazon in noch höhere Höhen zu schrauben“ seien. Verdammte Kiste, da hat er recht, der Lindner. Und das irritiert mich, denn immer wieder betont er (fast in jedem 3. Satz), wie wichtig die Digitalisierung sei. Der kann fast gar nichts mehr begründen, ohne den qualvollen Mangel an Digitalem in seine Begründungskontexte einfließen zu lassen.
Nun ist es aber so, Herr Lindner: Amazon ist keine unerwünschte Nebenwirkung der Digitalisierung, sondern Amazon IST Digitalisierung. Wie passt das zusammen, bzw. was vertreten Sie eigentlich? Auch die sich leerenden Innenstädte, von Corona mal abgesehen. Diese Leere ist keine Folge der Digitalisierung, sondern Digitalsierung definiert sich über den schrumpfenden Verkehr in den Städten. Digitalisierung ersetzt das Treiben auf den Straßen durch ein Treiben im Netz, das ist einer ihrer Wesenskerne. Warum also jammern? Wer sagt, er wolle digitalsieren, sagt gleichzeitig, er wolle die Menschen von den Straßen holen, quasi aus dem öffentlichen Verkehr holen und vor dem privaten Bildschirm platzieren bzw. ans Smartphone ketten. Was anders ist denn das HomeOffice bzw. das HomeSchooling (Scheißwort)?
Und so weicht mein politisches Feindbild auf, wird wabbelig, kann mich nicht mehr stützen und motivieren. Orientierungslos suche ich nach dem richtigen Weg. Es sei denn … Ja, das wird es sein. Wenn der Linder von „Digitalisierung“ schwärmt, dann meint er vielleicht nur bestimmte Aspekte der Digitalisierung (obwohl das Abtrennen praktisch unmögllich ist). Vielleicht meint er nur das, was schlaue Leute, die in die Zukunft schauen können, mit „Industrie 4.0″ bezeichnen und das Ganze auch schon in superweiser Voraussicht als „Revolution“ einordnen. Sei’s drum. Es wäre aber wünschenswert, wenn Herr Lindner dann nicht verallgmeinernd von „Digitalisierung“ sprechen würde, sondern sich etwas präziser ausdrücken würde. Er könnte seine Ziele ja mit dem Begriff „digitale Transformation in den Produktions- und Wertschöpfungsketten“ beschreiben. Dann wüsste jeder, was er meint. Seine Nähe zum liberal ausgerichteten Industrie-Management sollte doch geeignet sein, u.a. seinen Sprachschatz zu erweitern, oder? Und wenn er seinen geliebten Managern mal genauer aus Maul schaut, dann findet er sicher noch eine Möglichkeit, den Begriff „Skalierung“ hineinzubasteln. Viel Erfolg.