Deutschland leidet, und wie. Wenn’s um den Stand der Digitalisierung geht, dann liegt Deutschland irgendwo im Mittelfeld. Höchstens. Da muss ein Land, dass auf Fortschritt angewiesen ist, ja in tiefem Leid versinken.
Dabei ist die Bevölkerung durchaus aufgeschlossen und vorwärtsgewandt. So hat eine Untersuchung ergeben, dass sich zum Beispiel 99 % der Deutschen eine schnellere Digitalisierung der Schulen wünschen. Wow, da erblassen ja sogar Leute wie Lukaschenko vor Neid. Oder die Wahlexperten der ehemaligen DDR. 99 Prozent, das muss man erst mal einordnen. Unter 100 Deutschen gibt es nur eine einzige Person, der es schnell genug mit der Digitalisierung von Schulen geht.
Doch zuerst sollten wir uns einmal vor Augen führen, was das bedeutet, diese Digitalisierung des Bildungssystems. Klar, da braucht man flächendeckend eine schnelle Internetanbindung. Klar, auch eine gute Ausstattung mit „Endgeräten“ wie Laptops usw. ist unbedingt wünschenswert. Aber das sind eher Randbedingungen, zwar wichtig, aber dennoch nicht mehr als technische Voraussetzungen. Die eigentliche Digitalisierung des Bildungssystems beginnt erst dann, wenn die Infrastruktur und die vorhandene Technik ausgenutzt werden. Und wie überall kann das auf verschiedene Weisen erfolgen, mit einer Spannweite, die von schädlich oder gar zerstörerisch bis hin zu äußerst gewinnbringend reicht.
Im Schul- und Bildungssystem geht es im wesentlichen um vier Bereiche, die für die Digitalisierung erschlossen werden können:
1. Organisation. Das betrifft Dinge wie Stundenpläne, Lehrereinsätze, Raumbelegungen, Lehrmittelverwaltung, Schüleranmeldungen usw. Es sind vornehmlich Verwaltungsaufgaben, die durch die Digitalisierung erheblich optimiert werden können. Die dafür erforderlichen Daten sind größtenteils unkritisch. Ob dafür jedoch ein schneller Internetanschluss gebraucht wird, ist allerdings fraglich.
2. Digitalisierung der Unterrichtsmethodik. Hier könnte man auch von einer Objektivierung des Unterrichts sprechen, bei der der Computer oder das Tablet mehr und mehr die Funktion von Lehrerinnen und Lehrern übernehmen. Inwieweit das für die Schüler ein Gewinn ist, muss noch geklärt werden. Erfahrungen mit anderen Formen des objektivierten Unterrichts wurden ja bereits gesammelt und sollten in die Überlegungen einfließen. Es sei an die „programmierte Unterweisung“ (60er-70er Jahre) oder an die Sprachlabore erinnert.
3. Digitalisierung der Didaktik. Klar, das Internet und die digitale Datenverarbeitung sind aus der Welt nicht mehr wegzudenken und müssen deshalb thematisiert werden. Dabei geht es nicht um die Bedienung von Smartphones oder Laptops; diesbezüglich werden die Schüler den Lehrern schon beibringen, wie das geht. Nein, es müssen vor allem die Folgen der Digitalisierung und die kaum wahrzunehmende, unterschwellige Manipulationsgefahr Gegenstand und Ziel des Unterrichts sein. Oder die Bedeutung des Datenschutzes. Programmierkenntnisse können helfen, die Funktion von Algrithmen, vor allem auch deren Wirkung, zu verstehen.
4. Digitalisierung der Leistungsbeurteilung. Bis jetzt noch ist es Aufgabe der Lehrer, Schülerleistungen zu bewerten. Wirklich objektive und allgemein vergleichbare Leistungskriterien gibt es (noch) nicht. Subjektive Beurteilungsfaktoren oder auch der Druck seitens der Elternschaft verfälschen zudem die schulische Leistungsbeurteilung. Dabei hängt sehr viel vom Schulzeugnis ab. Somit ist es nur logisch, dass über digitale Möglichkeiten der Leistungserfassung nachgedacht wird. Es geht primär um Schülerleistungen, sekundär aber auch um die Leistungsfähigkeit von Schulen und den vor Ort praktizierten Methoden. All das legt die zentrale Erfassung von Schülerleistungen nahe, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle Leistungsdaten lückenlos erfasst und auf zentralen Servern gesammelt werden. Dort stehen sie dann für weitere Auswertungen zur Verfügung, etwa für die Berufswahl oder die Gewährung von individuellen Fördermitteln.
Eigentlich müsste jetzt noch ein 5. Punkt folgen, nämlich die zentrale Erfassung von Verhaltensdaten. Aber den Punkt lasse ich mal aus. Jedenfalls soltle sichtbar werden, dass Digitalisierung von Schulen mehr ist als Glasfaser und Klassensätze von Laptops. Es sollte ebenfalls deutlich sein, dass das ein äußerst komplexes und in vielen Bereichen auch gefährliches Unterfangen ist. Hier ist nicht Tempo, sondern sorgfältiges Vorgehen gefragt. Und wenn man nun hört, dass 99 % der Bürger ein schnelleres Vorgehen wünschen, dann wird man natürlich stutzig. Haben die Bürger keine Ahnung, was mit der Digitalisierung verbunden ist?
Es gibt noch eine andere Erklärung für diese unfassbare Zahl. Jede Befragung kann durch geschickte Fragestellungen zu einem weitgehend beliebigen Ergebnis gelenkt werden. Da drängt sich natürlich die Frage nach dem Fragesteller auf. Sicher, viele Befragungen (wahrscheinlich sogar die meisten) sind so ausgelegt, dass sie ein weitgehend aussagekräftiges Bild ergeben (sollen). Aber Werte von 99% sind dabei höchst unwahrscheinlich. Solche Extremwerte entstehen nur, wenn es sich um offensichtliche Tatsachen handel, die eigentlich keiner Befragung bedürfen – oder wenn bestimmte Inerteressn dahinterstehen, Interessen machtpolitischer, ideologischer oder kommerzieller Art.
Kurz: Die Befragung mit dem 99%-Ergebnis wurde von der Bitcom in Auftrag gegeben. Das ist der Interessenverband der Digitalwirtschaft.
Aha.