Nach einigem Zögern hat man sich auf breiter Basis zu einem Entschluss durchgerungen: Den Geimpften und den Genesenen muss es wieder möglich sein, ohne Einschränkungen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das hat nicht nur Vorteile für die Betroffenen selbst, denn mit dieser Befreiungsmaßnahme können langsam das Geschäftsleben, die Gastronomie und nicht zuletzt die Touristik wieder neu belebt und hochgefahren werden. Toll.
Sicher, man muss die Privilegierten ja irgendwie erkennen können, aber dazu wird es bestimmt eine Lösung geben. Wenn alle Stricke reißen, ist immer noch der Gott der fortschrittlichen Moderne, die Digitalisierung, ansprechbar. Mit seinen geweihten Geräten, den Smartphones, lassen sich alle Probleme in den Griff kriegen, auch die des Nachweises, dass man zu einer bevorzugten Kaste gehört. Zuversicht also.
Nun gab es allerdings auch gegenläufige Meinungen, Menschen, die von Diskriminierung der Nichtgeimpften sprachen. Hm, ja, da kann sich schon mal das Gewissen melden. Aber dann hatten einige maßgebliche Persönlichkeiten, allen voran unsere Justizministerin Christine Lambrecht oder der FDP-Lindner, den entscheidenden Gedanken. Wir haben überhaupt kein Recht, den Geimpften ihre grundgesetzliche zugesicherten Freiheitsrechte vorzuenthalten. Befreiend, da krabbelt das Gewissen ganz schnell in die dunkle Ecke.
Selten wurde der Begriff „Freiheitsrechte“ so häufig gebraucht wie gegenwärtig. Freiheit, ja, ein hohes Gut. Vielleicht das höchste, auf das Menschen in der Gesellschaft einen Anspruch haben. Freiheit, sich so zu bewegen, wie man möchte – wenn man nicht gerade auf der Arbeit oder im Straßenverkehr. ist. Freiheit, das zu tun, was man möchte – wenn man nicht gerade etwas Böses oder Ungesetzliches oder Unordentliches im Sinn hat. Freiheit, das zu denken, was einen bewegt – wenn man nicht gerade die Gedanken, die Wünsche und das Wollen vom Smartphone empfängt. Ja, so ist das mit der Freiheit und den hochgelobten Freiheitsrechten. Vielleicht sollte man ein wenig über wirkliche Freiheit nachdenken. Sie sind nicht einfach, diese Gedanken, auch unbequem und irgendwie zeitlos, also unmodern. Aber das nur am Rande.
Also beschränken wir uns auf die Freiheit, nach Malle fahren zu dürfen oder mit möglichst vielen Freunden, die wir ja dank Facebook und Co. haben, die überschäumende Lebensfreude genießen zu dürfen. Wichtig, keine Frage. Und nützlich, wie ich eingangs schon erwähnte.
Fassen wir noch mal zusammen: Jeder Mensch hat seine Rechte, und die dürfen ohne zwingenden Grund nicht eingeschränkt werden. Wenn es Menschen gibt, von denen eine Infektionsgefahr ausgeht, müssen diese – und nur diese – vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Leider, aber unvermeidbar. Dieser schlichte Gedankengang ist übrigens nicht neu. In Indien oder im arabisch-orientalischen Kulturraum hat man vor Jahrhunderten ähnlich gedacht und danach gehandelt. Da mussten auch zum Schutz der gesunden Allgmeinheit bestimmte Menschen ausgeschlossen und isoliert werden, die eine Infektionsgefahr darstellten. Es waren die Leprakranken, die Aussätzigen (im wahrsten Sinne des Wortes). Hat funktioniert.
Nun aber deutlich kritischer. Sicher, der Vergleich scheint überzogen zu sein, zumindest auf den ersten Blick. Aber er wirft einige entscheidende Fragen auf: Kann man, darf man Grundrechte differenziert anwenden, also je nach individueller Lage verteilen? Darf man Bevölkerungsgruppen von Rechten ausschließen, wenn sie keine Chance haben, die Rechte, die man anderen gewährt, einzufordern bzw. zu verdienen? Wenn ja, warum ist die unterschiedliche Gewährung von Freiheitsrechten nicht im Grundgesetz verankert, in jenem Gesetz, auf dass sich Frau Lambrecht so vehement beruft? Und wenn die unterschiedliche Verteilung von Rechten gesetzmäßig sein (werden) sollte, wie sieht das dann in anderen Bereichen aus: im Verkehrswesen, beim Umgang mit Waffen, überhaupt in bürgerlichen Belangen? Nicht zuletzt: Wie will man begründen, dass eine schwächere, anfällige Gruppe in ihren Rechten beschränkt wird, damit eine stärkere Gruppe geschützt wird?
Ich will diese Fragen auch gleich beantworten, und nun ohne versteckte Ironie: Wenn es notwendig und sinnvoll ist, dass bestimmte Teile der Bevölkerung mehr Aktionsfreiheit erhalten als andere Gruppen, dann ist das zwar Scheiße, aber kann als vorübergehende Maßnahme akzeptiert werden – notgedrungen. Hier aber mit Freiheitsrechten zu argumentieren, ist eine missbräuchliche Instrumentalisierung der Grundrechte. Grundrechte sind unteilbar und können nicht aus pragmatischen Gründen hier zugestanden, dort verweigert werden.
Datenschutz ist übrigens ein weiterer moralisch-rechtlicher Wackelkandidat. Wenn er denn sein muss – aber nicht mehr als unbedingt nötig, damit der Fortschritt nicht behindert wird. Oder das Verhältnis zu Unrechtsstaaten wie Russland oder China. Ja, ansprechen soll man die Menschenrechtsverletzungen ja, aber nicht lauter als nötig, damit unsere Absatzmärkte und unser Wohlstand nicht eingeschränkt werden müssen. Unsere fortschrittliche, moderne Zeit – in vielerlei Hinsicht eine Zeit zum Kotzen. Eine Zeit das Überflusses an überflüssigem, minderwertigem Kram. Und eine Zeit, in der wir auf Rechte pochen, ohne zu wissen, was sie wirklich bedeuten.