In letzter Zeit ist es üblich, China als Muster für eine lückenlose digitale Überwachung vorzustellen. Sicher, China ist der Überwachungsstaat schlechthin, und in vielerlei Hinsicht wird der von George Orwell (1984) beschriebene Albtraum durch die Realität bereits übertroffen. Doch China scheint für viele weit weg zu sein, zu weit, um sich bedroht zu fühlen. Jedenfalls macht man unbekümmert weiter, klickt auf dem Smartphone herum, dass es glüht, genießt den „Komfort“, sich mit Fingerabdruck oder Gesichtserkennung einloggen zu können, freut sich über „künstliche Intelligenz“, die dank der Spracherkennung das mühsame Schreiben in vielen Fällen entbehrlich macht.
Und dann auf einmal die Nachricht, die regelrecht aufschreckte und vielerorts für Entsetzen sorgte: In den USA gibt es eine Internet-Plattform namens ClearView, die mehr als drei Milliarden Bilder von Gesichtern enthält, diese per Gesichtserkennung auswertet und die gewonnenen Personendaten in einer gigantischen Datenbank speichert. Wer zahlt, kann auf die Daten zugreifen, und zahlende Interessenten gibt es reichlich, vor allem in der amerikanischen Polizei- und Geheimdienstszene.
Die Annahme, sowas wie in China könne in der demokratischen, westlichen Welt nicht entstehen, ist pure Blauäugigkeit. Es ist einfach eine Erfahrungstatsache, die sich aus psychologisch-soziologischer Sicht wahrscheinlich sogar begründen lässt: Was technisch möglich ist, wird auch gemacht – irgendwann, irgenwo, von irgendjemand. Und Technik, die missbraucht werden kann, wird missbraucht, irgendwann, irgendwo. Wenn mit irgendwas Geld zu machen ist, egal worum es sich handelt, wird es zu Geld gemacht, irgendwo und irgendwann. So ist das nun mal, und in den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass sich Daten herrvorragend vermarkten lassen, sofern kein eindeutiger Riegel vorgeschoben wird. Intimsphäre? Datenschutz? Achtung vor der Menschenwürde? Facebook hat vorgemacht, wie sich diese Dinge hervorragend ignorieren lassen. Man braucht nur kräftige Schlagworte, um das miese Geschäft in ein positives Licht zu stellen. Bei Facebook heißt die wirkungsvolle Parole „miteinander“. Die damit verbundene Lüge wird von den meisten Menschen dann gern überhört.
Bei der Gesichts-Datenbank heißt die Parole „Sicherheit“, ebenfalls eine Lüge, denn den paar Fahndungserfolgen, mit denen die Polizei ihren Zugriff auf die Datenbank rechtfertigt, steht ein Einbruch in die Privatbereiche von Milliarden von Menschen gegenüber. Bereiche, die nicht wirklich sicher gemacht werden können, denn die Sammlung der Gesichtsdaten erfolgt ja nicht durch kompliziert zu öffnende Hintertüren, sondern ganz einfach durch das Scannen von Fotos in den digitalen Netzwerken oder auf Internetseiten.
Was man dazu braucht, ist nicht viel. Der Urheber von ClearView, ein Australier mit vietnamesischen Wurzeln, hat es: Man braucht vor allem einen gewissen Hackerinstinkt und dann einige Freunde oder Investoren, die Geld für die Start-up-Investition bereitstellen und etwas Know-how im Umgang mit Programmierung und KI-Systemen besitzen. Den Rest besorgen automatische Scan-Programme, die sich durch Webseiten und Medien hangeln. Links und Likes machen es diesen Programmen einfach. Vor allem natürlich ist es die Leichtfertigkeit der Nutzer, die ClearView ermöglicht. Konsequenz? Ganz einfach: Bilder von Privatpersonen gehören weder auf eine Internetseite noch in einen Twitterbeitrag, erst recht nicht auf Instagram oder Whatsapp. Und jetzt kommt’s: Da jedes Smartphone eine Kamera enthält und Apps sich dieser Kamera bedienen können, ohne dass man etwas davon mitbekommt, lässt sich gar nicht vermeiden, dass Bilder in die schmutzigen Fänge von Datenhaien wie ClearView gelangen. Die Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, liegen auf der Hand, und so will sie hier nicht auseinanderlegen. Ja, es sind schwerwiegende Konsequenzen, die sich ergeben.
Andererseits auch nicht allzu schwerwiegend, denn man kommt hervorragend zurecht, wenn man das Smartphone sparsam, am besten nur in dringenden Fällen benutzt. Ich halte mich dran und vermisse nichts. Gar nichts. Aber je stärker die Gesellschaft von diesen Dingern Gebrauch macht, desto mehr nähern wir uns den chinesischen Zuständen. Garantiert. Als ClearView in einer TV-Sendung vorstellt wurde, da fragte man einen Vertreter der Polizei, ob die Benutzung einer solchen Datenbank auch in Deutschland denkbar sei. Der Polizeisprecher hatte seine Bedenken und forderte vor allem nationale, von den USA unabhängige Lösungen. Aber die Leistungsfähigkeit der in Deutschland entwickelten Gesichtserkennung sei noch nicht ausreichend; die Trefferquote sei noch nicht zufriedenstellend.
Ich bin sicher, dass man diese Schwächen bald ausmerzt, und dann steht einem deutschen China ja nichts mehr im Wege.