Die Überschrift legt die Vermutung nahe, dass ich in diesem Beitrag wieder über die smarte (= digitale) Revolution herziehen will, aber das ist nicht der Fall – schon im analogen Umfeld gab es smarte Sachverhalte. Darauf möchte ich hier eingehen, zunächst jedenfalls. Gelogen wurde immer schon, mitunter, dass sich die Balken bogen. Doch je weiter die Digitalisierung voranschreitet, desto geringer wird die Bedeutung des Lügens. Nicht weil weniger gelogen wird, im Gegenteil. Das Lügen wird durch die Digitalisierung bedeutungsloser, weil die Wahrheit an Bedeutung verliert. In einem anonymen Umfeld, wo jeder machen und sagen kann was er will und dieses als „Freiheit“ versteht, schrumpft Wahrheit zu einer bedeutungslosen, nostalgischen Erinnerung. Wo Wahrheit nicht geschützt werden kann, ja nicht mal als schützenswert erachtet wird, kann man sie unter den Teppich kehren.
Aber noch ist es nicht so weit, noch lohnt es sich, über die Mechanismen nachzudenken, die in der Gesellschaft Wahrheit und Lüge definieren. Also:
Wenn jemand nach Dienstschluss noch ein Schäferstündchen mit einer netten Person verbringt, seiner Frau aber mitteilt, er habe Überstunden gemacht, dann sagt er offenbar nicht die Wahrheit. So etwas nennt man im digitalen Zeitalter „fake news“ oder „alternative Fakten“ (herrlich, diese Wortschöpfung von Kellyanne Conway). Wir können aber auch bei dem klassischen Begriff „Lüge“ bleiben. Doch um solche eindeutigen Lügen wie in dem genannten Beispiel soll es hier nicht gehen. Es gibt auch smarte Lügen, die butterweich daherkommen und kaum durchschaut werden, entweder weil die Zusammenhänge komplex und unübersichtlich sind oder weil eine Portion Interpretation und Gewichtung hinzukommt. Smartes im analogen oder – besser gesagt – vordigitalen Kontext.
Beispiel 1: Statistik
Während meines Studiums habe ich mich eine Zeitlang auch mit mathematischer Statistik befasst, und ich muss sagen, dass mich die Materie ziemlich phasziniert hat. Die Begeisterung hat lange angehalten, doch meiner Frau konnte ich später damit nicht kommen. Sie behauptete: „Geh mir weg damit, Statistik lügt.“ Fand ich damals nicht, aber inzwischen … Die Zweifel stecken aber nicht im Zahlenmaterial an sich, sondern in der Darstellung der Ergebnisse.
Ein schönes Beispiel für die Fragwürdigkeit statistischer Aussagen ist der Feldzug gegen das Passivrauchen. (Zur Information: Ich bin schon seit etlichen Jahren Nichtraucher) Wie hieß es? Jährlich sterben 3000 Menschen an den Folgen des Passivrauchens. Was dann kam, ist bekannt: Um Nichtraucher zu schützen, wurde das Rauchen in der Öffentlichkeit weitgehend verboten, und mehr und mehr dringen die Verbote auch in die privaten Bereiche hinein.
Aber was heißt das eigentlich, 3000 Tote durch Passivrauchen? Die Formulierung legt nahe, dass jemand, der passiv mitraucht, umfällt und stirbt. Das ist natürlich nicht der Fall, sondern in Wirklichkeit ist es doch wohl so, dass der Rauch (zusätzlich zu anderen Faktoren) die Organe so belastet, dass es zu einem verstärkten Auftreten von Krankheiten kommt, die wiederum – statistisch gesehen – eine kürzere Lebenszeit zur Folge haben. Doch um wieviel kürzer als der Durchschnitt? 1 Monat, 1 Jahr, 3 Jahre? Bezeichnend ist die Tatsache, dass nirgendwo dieses wichtige Angabe gemacht wurde. Zumindest habe ich keine gefunden. Es wurde auch darüber geschwiegen, wie stark sich die Intensität des Passivrauchens auswirkt, an und für sich wohl die Kernfrage. Und schließlich ist das Zusammenwirken mit anderen Belastungsfaktoren äußerst wichtig. Macht sich auf dem Lande, wo die Luft in der Regel gut ist, das Passivrauchen ebenso signifikant bemerkbar?
All diese Verkürzungen in der Deutung der zweifellos richtigen Zahlen, so gut sie gemeint sein mögen, führten zu ausgesprochen hasserfüllten Angriffen auf die Raucher und nicht zuletzt zu schrillen Ausfallerscheinungen in der Gesellschaft. So befasste sich tatsächlich das Verfassungsgericht (!) mit der Größe von Kneipen in der Frage, ob ein Raucherraum eingerichtet werden darf. Und allen Ernstes wurde darüber diskutiert, ob das Schlüsselloch zu einem Raucherraum so abgedichtet werden kann, dass man den Nebenraum Nichtrauchern zumuten darf. Es wurden also fundamentalistisch geprägte, vollkommen überzogene Haltungen eingenommen, bei denen jedes Augenmaß und jede Vernunft verloren ging.
Wenn man berücksichtigt, dass die Antirauchen-Initiative hauptsächlich von Ärzten angeregt und in Gang gehalten wurde, dann wird deutlich, dass auch die interpretierenden Personen und ihr Ansehen eine gewichtige Rolle spielen. Insgesamt ein Bündel von Spielräumen und Deutungsabsichten, bei denen das eigentliche Zahlenmaterial nur noch zur Untermauerung von Aktionszielen dient. In diesem Sinne dient Statistik kaum noch zur Beantwortung von Fragen, was ihr eigentlicher Zeck ist, sondern als scheinbar objektiver Faktor in einem vorgefassten Begründungskontext.
Ein weiteres, fast amüsantes Beispiel für die Deutungsprobleme von statistischem Material lieferte eine Arzt (Okologe, glaube ich) an der Uni-Klinik Münster. Schon 14 Tage nachdem das Rauchverbot in Kneipen in Kraft getreten war, verkündete er den ersten Erfolg des Verbots. Seitdem sei die Zahl der Neuerkrankungen drastisch zurückgegangen, von 7 auf 4 (so in etwa). Andere Mediziner sprachen vom „Wunder von Münster“. Ich will das nicht weiter kommentieren, aber drastischer als dieser „Wunderheiler“ kann man einen falschen Umgang mit Statistik nicht demonstrieren.
Beispiel 2: Umfragen
Im Grunde könnte man hier auch von Statistik sprechen, aber es gibt doch einen wichtigen Unterschied zu anderen statistischen Erhebungen. Bei Umfragen wird das Zahlenmaterial zum großen Teil nicht durch direkte Fragestellungen gewonnen, sondern eher durch indirekte Fragen, aus denen bestimmte Absichten, Einstellungen usw. abgeleitet werden können. Der Befragte erkennt in der Regel nicht sofort, was das Ziel der Frage ist.
Umfrageergebnisse haben eine starke Werbewirkung. Wenn ein großer Prozentsatz der Bevölkerung eine bestimmte Lebensweise verfolgt oder eine bestimmte Produktlinie bevorzugt, dann muss das doch einen Grund haben, so folgern die Menschen, und das ist ja auch plausibel. Folglich muss Branchenverbänden und Herstellern sehr daran gelegen sein, positive Umfragewerte präsentieren zu können. Und genau das ist in gewissen Grenzen machbar, man muss nur die Fragestellung entsprechend geschickt konstruieren: durch gezieltes Weglassen von Fragen, durch Häufung von „günstigen“ Fragen, durch Gewichtung, vor allem aber durch Locken auf positive Grundaussagen, aus denen wiederum auf eine positive Haltung im Einzelfall geschlossen wird, was aber falsch sein kann. Im Einzelfall können nämlich auch entgegengesetzte Gründe eine Rolle spielen, die aber in der Fragestellung ignoriert werden. Das Repertoire, gewünschte Umfrageergebnisse zu erzielen, ist gewaltig, und die Werbefirmen und Interessenverbände haben Spezialisten an Bord, die virtuos damit umgehen können. Und trotz richtiger Zahlen natürlich lügen.
Und so stellt man dann überrascht fest, dass ein hoher Prozentsatz (die Mehrheit) der Bevölkerung den Einsatz von KI positiv bewertet. Sind die Leute zu dumm, um zu kapieren, welche immensen Gefahren darin stecken? Wohl kaum. Also die Umfragewerte. Man stellt fest, dass die Umfrage von einem Branchenverband der Digitalindustrie in Auftrag gegeben wurde. Oder, um ein anderes Beispiel zu bringen: ein unglaublich (wörtlich zu nehmen) hoher Prozentsatz wünscht sich ein Zuhause mit möglichst viel „intelligenten“ Geräten. Wer steckt hinter diesen Umfragen? Klar, zum Beispiel die Unterhaltungsindustrie, die voll auf modernste Technik setzt und damit Geld machen will. Oder ein Verband rund um Küchenausstattungen, der natürlich modernste Küchentechnik beliebt machen will und dabei sogar noch gegen bewährte Lebensqualitäten wie Gemütlichkeit, Privatheit usw. ankämpfen muss (und offenbar erfolgreich ankämpfen kann).
Gerade im Umfeld von großen Messen, wo Neuigkeiten an Frau und Mann gebracht werden soll, kann man sehr schön verfolgen, wie Umfragen zu Tendenzen und Entwicklungen funktionieren. Einfach mal ans Ende eines solchen Beitrags gehen, da steht oft (leider nicht immer), wer eine zitierte Umfrage in Auftrag gegeben hat. Und wenn dahinter ein interessenneutraler Auftraggeber steht, dann – und nur dann – lohnt es sich, den Beitrag zu lesen. Skepsis ist jedoch immer angesagt.
Auch hier ein konkretes Beispiel: Im Rahmen der IFA 2019 wurden Ergebnisse einer Umfrage präsentiert, die von der Branchengesellschaft gfu (!) in Auftrag gegeben wurde. Demzufolge steuern bereits 68 % ihre smarten Unterhaltungsgeräte per Sprache oder haben dies vor. Bemerkenswert, nicht wahr? Das bedeutet doch, dass in fast 7 von 10 Haushalten der Fernseher nicht mehr mit der Fernbedienung eingeschaltet wird, sondern per Zuruf. Dasselbe gilt für die Einstellungen oder die Senderumschaltung. Das muss ich doch auch haben, sagen sich viele daraufhin, und die Unterhaltungsindustrie frohlockt. Aber sind die Zahlen glaubwürdig? Also, ich habe arge Probleme, das zu glauben, denn immerhin sind dermaßen eingestellte smarte Geräte nichts anders als Wanzen im persönlichen Raum. Sollten wirklich 68 % der Leute so bescheuert sein? Möglicherweise ist es eine Formulierungssache? „Oder haben dies vor“, berichtete die gfu. Da haben wir so eine schwammige Absichtserklärung, die sich leicht aus den Fragen generieren lässt und die das Ergebnis beträchtlich „verbessert“.
Beispiel 3: Leserbriefe
Das ist ein Kapitel so richtig aus der analogen Zeit, denn es geht um Zeitungen und Zeitschriften. Nicht, dass die Digitalsierung die im folgenden anzusprechenden Probleme beseitigt. Im Gegenteil: Es kommen viel größere Probleme hinzu. Aber bleiben wir bei dem analogen Papier.
Wer kennt nicht die Leserbrief-Rubriken in Zeitungen? Bei einigen Zeitungen ergötzen sich die Schreiber in hochgeistigen, intelligent codierten Meinungsäußerungen, die vornehmlich dem Zweck dienen, den Intellekt des Schreibers ins rechte Licht zu rücken. Bei anderen Blättern wiederum scheinen die Schreiber direkt vom Stammtisch gekommen zu sein. Aua. Aber eines haben alle Leserbriefe gemeinsam: Sie sollen nicht die Meinung von Lesern wiedergeben, sondern das Meinungsbild der Redaktion mit authentischem Material zum Ausdruck bringen. Manche Redaktionen gehen dabei sehr geschickt vor, z.B. indem sie eine angemessene Zahl von wohldosierten Gegenmeinungen bringen, die aber noch unausgereift und deshalb korrigierbar wirken sollen. Andere Zeitungen mischen die Beiträge brühwarm so zusammen, dass schnell erkennbar wird, wo die Redaktion steht (was man meistens ohnehin schon weiß).
Die Mittel der redaktionellen Meinungsäußerung mittels Leserbriefen sind einfach: Selektion und Kürzung. Was die Selektion betrifft, ist der Sachverhalt eindeutig. Niemand hat Anspruch auf Veröffentlichung seines Leserbriefes. Das muss auch so sein, denn andernfalls würde die Leserbrief-Rubrik auf das Niveau digitaler Kommunikationsplattformen absinken, mit einem alles überschwemmenden Grundrauschen. Aber es sollte einleuchten, dass die Zeitungsredaktionen damit die Meinungsbildung erheblich steuern können.
Mit der Kürzung verhält es sich nicht viel anders. Praktisch alle Zeitungen behalten sich das Recht auf Kürzung ausdrücklich vor und geben dies auch jedesmal bekannt. Wer jedoch schon einmal einen zu langen Leserbrief verfasst hat und schließlich feststellen musste, dass an etlichen Stellen gekürzt wurde, der muss feststellen, dass dadurch die Aussage ganz erheblich verschoben werden kann. Formbares Material, das als echt ausgegeben wird und dennoch eher die Meinung der Redaktion als die des Verfassers widerspiegelt. Authentisches Material und Lüge gleichermaßen, mit wechselnden Anteilen.
Fazit:
Bei allen smarten Lügen geht es hintergründig um Geld und Gewinn. Wenngleich inzwischen eine gigantische Industrie entstanden ist, die das smarte Lügen professionell betreibt, sollten wir bedenken, dass die Ursprünge nicht in der Digitalisierung zu suchen sind. Solange es den Kapitalismus mit seinem hemmungslosen Gewinnstreben gibt, solange wird versucht, mit allen legalen Mitteln (und versteckt auch mit nicht legalen Mitteln) dem Gewinn auf die Sprünge zu helfen. Neben den drei oben genannten Methoden ist es nicht zuletzt die Werbeindustrie, die sich über die Menschen hermacht. Auch Werbung ist inzwischen stark von smarten Lügen durchsetzt. Hätte ich oben als 4. Punkt erwähnen können (neben weiteren), aber 3 Beispiele sind genug.
Was die digitalen Methoden erheblich von den analogen unterscheidet, ist ihre enorme Effektivität. Analoges Lügen war gewissermaßen noch umständlich und aufwändig. Das geht in der digital durchorganisierten Welt nun wie geschmiert. Ich weiß nicht, ob es dazu schon Untersuchungen gibt, aber nach meiner Schätzung dürften die durch smartes Lügen erzeugten Schäden heutzutage mindestens zehn mal so groß sein wie zu vordigitalen Zeiten. Zumal sich die Politik schwer tut, halbwegs saubere Verhältnisse oder den Grundrechteschutz gegenüber der Lügenindustrie durchzusetzen.
P.S. Ein weiterer Fall für das smarte Lügen sind die sogenannten „Studien“, die ähnlich wie Umfragen meist in Auftrag gegeben werden. Was da zu irgendeinem Ergebnis auf Grund von Simulationen oder Prognosen zusammengebraut wird, ist völlig intransparent und lässt sich beliebig für bestimmte Zwecke gestalten. Wir erleben so ein Beispiel zur Zeit: Die Bertelsmann Stiftung empfielt in ihrer Studie das radikale Zusammenstreichen von Krankenhäusern, was zu Recht viel Empörung hervorruft. Denn medizinische Qualität lässt sich nicht nur an Fachleuten und Hightech festmachen. Ganz entscheidend für die Heilung ist u.a., ob sich die Patienten in der Klinik wohlfühlen, ob sie nicht das Gefühl vermittelt bekommen, durch eine perfekte Riesenmaschinerie geschleust zu werden.
Aber nun kommt’s. Ich erwähne es vorbehaltlich, dass die Faktenlage stimmt. Brigitte Mohn, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, sitzt im Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG, einem großen Klinik-Privatbetreiber, der von der Schließung kleiner kommunaler Krankenhäuser profitieren würde. Nein, es muss keinen Zusammenhang geben, aber Gedanken darf man sich ja wohl machen. Und vielleicht sollte eine Gesellschaft wie Bertelsmann, deren Vorstand befangen sein könnte, so eine Studie erst gar nicht starten. Oder umgekehrt. Es gibt auch Leute, die einen Aufsichtsratsposten aufgeben, um den Verdacht von Befangenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen.