Digitalisierung und KI – die Universallösung?

In der Tat, Digitalisierung und KI haben sich an die Spitze vorgearbeitet; sie haben sich im Zentrum der Gesellschaft eingenistet und sind dabei, sich immer weiter aufzuplustern. Drumherum bleibt nicht mehr viel Platz für andere Lösungsansätze und Strategien. Das macht aber nichts, denn Digitalisierung und KI (= künstliche Intelligenz) sind die Mittel, um alle Probleme der Welt zukunftsgerecht und nachhaltig anzugehen und zu lösen.

Glaubt man, verkündet man, trommelt man.

Dabei sind die Begriffe zunächst nur Unsinn, „Kackwörter“, wie ich sie mal genannt habe. „Digitalisierung“ ist die schwammige Umschreibung für etwas, was die meisten Menschen nicht durchschauen oder sachlich vernünftig einordnen können. Je inflationärer der Begriff verwendet wird, desto stärker offenbart sich dahinter ein bestürzendes Halbwissen. Und „Künstliche Intelligenz“ ist ein zweischneidiges Schwert. Entweder haben die dahinter stehenden Algorithmen, trotz ihrer strukturellen Nähe zum biologischen Gehirn, nichts mit Intelligenz zu tun. Falls man dennoch irgendwann in den Bereich von Intelligenz vorrücken sollte (könnte), dann wäre das eine gefährliche, zerstörerische und unbedingt zu vermeidene Angelegenheit. Überhaupt sind die Früchte der KI schon jetzt mehr als zweifelhaft; sie haben das Zeug, viel zu zerstören und wenig zu verbessern. Siehe China. Aber das alles sind Überlegungen, die ich in verschiedenen Beiträgen bereits erörtert habe.

An dieser Stelle werden sich wahrscheinlich die meisten Leser ausklinken: Beitrag zu lang. Ja, er wird länger, dieser Beitrag, und wer nicht bereit (oder imstande) ist, einen längeren Text zu lesen, der kann getrost abhauen. Der Beitrag ist ohnehin nicht für Twitterkonsumenten oder Vielkommentarschreiber gedacht. Tschüs. Auf Facebook oder Twitter oder Instagram sehen wir uns allerdings garantiert nicht wieder.

Aber zurück zum Leitgedanken dieses Beitrags und zu meinem Erstaunen darüber, welche Leistungen man der Digitalisierung und der KI zutraut. Es muss ja seinen Grund haben, wenn diese – nennen wir’s mal: Anliegen – in aller Munde sind. Wenn man so herumhört, dann wird schnell klar: Digitalisierung ist Jugend und Zukunft, Fortschritt und Chance, Komfort und Bequemlichkeit, Kommunikation und Verbundenheit, Globalisierung und Offenheit, Freiheit und Sicherheit, Orientierung und Glaube. Ja, Digitalisierung ist alles. Und künstliche Intelligenz ist der Schlüssel zu einer völlig neuen Welt. Zu einer besseren, schöneren natürlich.

Glaubt man, verheißt man, predigt man.

Aber werfen wir einen Blick in die Gesellschaft und schauen uns an, wie die Leute zur Digitalisierung und zur KI stehen. Beginnen wir bei der jungen Generation, die das Internet mit all seinen Facetten weitgehend für sich reklamiert. Die jungen Leute reden nicht von Digitalisierung, sie leben digital. Sie haben die digitale Welt allerdings nicht geschaffen, das haben ältere Generationen getan; aber sie wurden hineingelockt und fühlen sich offenbar sauwohl darin. Ist ja auch bequem, einen großen Teil des mühsamen Reifungsprozesses einfach umgehen zu können. Zum Beispiel den Umgang mit Freiheit. Die Freiheit des Internets ist eine Heilige Kuh, und wenn jemand das Wort „Kontrolle“ ins Gespräch bringt, dann geht man auf die Straße. Die meisten jungen Leute verstehen unter der Freiheit des Netzes die uneingeschränkte Möglichkeit, alles sagen und schreiben zu dürfen was man möchte. Sie übersehen schnell, dass Freiheit immer eine Kontrolle benötigt. Persönliche Freiheit ist die Verlagerung von einer öffentlichen oder staatlich gelenkten Kontrolle in den persönlichen Kontrollraum. Gelegentlich wird in dem Zusammenhang von Verantwortung gesprochen, ohne die es keine echte Freiheit geben kann.

Aber das muss der Jugend in ernsthafter und ernstnehmender Weise beigebracht werden. Genau dieses muss ein Ziel der Digitalisierung der Schulen sein. Ob dazu ein Smartboard oder eine herkömmliche Schultafel behilflich ist, ist sowas von nebensächlich, von scheißegal! Das haben allerdings die meisten Politiker noch nicht kapiert, ich meine diejenigen, die die Schulen digitalisieren möchten und dabei nur an die technische Ausstattung denken. Laien in Sachen Schule, sie sollten die Ziele besser den Experten der Erziehungswissenschaften an den Hochschulen, Seminaren und Schulen überlassen, die können’s besser. Ganz bestimmt.

Und damit zur Politik. Ich glaube, alle Parteien (die AfD lassen wir mal außen vor) haben zwei große Ziele in ihre Agenda gepackt: Klimaschutz und eben Digitalisierung. Nehmen wir die FDP mit dem liberalen Oberlehrer Lindner. Kaum ein Statement, in dem nicht wiederholt der Begriff „Digitalisierung“ fällt. Was steckt dahinter? Nun, der FDP geht es ums Wohlergehen der Wirtschaft und der Industrie. Typischer Fall von Oben-unten-Denken: Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Reichen im Kapitalismus (pardon: die Besserverdienenden; pardon: die Leistungsträger) zu stärken. Gewinnoptimierung und Behauptung auf dem globalen Markt, darum geht es der Partei.

Aber damit stehen die FDP und mit ihr einige Kreise in der CDU nicht alleine da. Im Grunde geht es bei der gesamten Digitalisierung vor allem um Gewinne, um Geld und Macht. Making the world a better place? An diese Parole glauben die Leute, die sie immer wieder lautstark verkünden, selber nicht. Die Menschen mit der kritischsten Einstellung zum Internet und zur gesellschaftlichen Digitalisierung sitzen – im Silicon Valley. Klar, dort hat man den besten Blick hinter die Kulissen. Nein, es geht um Profite, um das Reibachmachen mit und im Internet. „Wertschöpfungen“ nennt man es in Deutschland und wünscht den Start-Uppern viel Erfolg. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn die großen amerikanischen IT-Unternehmen als besonders „wertvoll“ eingestuft werden. Facebook, Instagram & Co. sind nicht geschaffen worden, um den Menschen etwas Gutes an die Hand zu geben. Sie sind einzig und alleine deshalb geschaffen worden, um Geld zu verdienen. Viel Geld, Milliarden.

Nicht jeder in der Politik denkt vorrangig an Wirtschaftsleistung, an Macht im globalen Wettbewerb oder an technologische Rationalisierung. Dorothee Bär zum Beispiel, die Staatsministerin für digitale Angelegenheiten. Für sie scheinen die sozialen Medien und deren möglichst intensiver Gebrauch höchste Priorität zu haben. Noch mehr Smartphone-Fummelei, noch mehr Daten, noch mehr digitale Kontakte, noch mehr kommunikatives Rauschen, noch mehr Scheinkomfort im täglichen Leben. Dass alle diese wohlfeilen Anliegen auch ihre negativen Seiten haben, wird – wenn überhaupt – nur flüsternd eingestanden. Man reibt sich verwundert die Augen, wenn angesichts einer völlig überdigitalisierten Medienlandschaft auf stärkere Digitalsiierung gedrungen wird. Oder wenn in einer Informationsgesellschaft, die mehr und mehr in Lügen und gesteuerten, manipulativen Halbwahrheiten erstickt, die digitalen Informationskanäle gefördert werden sollen. Oder wenn in einer zunehmend kontaktarmen Gesellschaft mit den unvermeidlichen Verrohungseffekten noch mehr Kontakte ins Netz verlagert werden sollen. Kontakte, die im Grunde keine sind, sondern nur Zähleinheiten. Soziale Aktivität, gemessen an der Zahl von Likes und Followern.

Aber das liebt man, und damit begnügt sich die Gesellschaft.

Bemerkenswert ist die Haltung der Grünen zur Digitalisierung. Vor kurzem verkündete die Parteispitze die vorrangigen Ziele für die Zukunft: Klimaschutz und – Digitalsierung. Ok, auf den Klimaschutz brauchen wir nicht einzugehen, es wäre schon komisch, wenn der bei den Grünen nicht an erster Stelle stehen würde. Aber Digitalisierung? Was meint die Parteispitze damit? Will man digitale Methoden verwenden, um die natürlichen Ressourcen zu schonen? Oder um den Kohlendioxidausstoß zu regulieren und damit zu vermindern? Geht es um neue, umweltverträglichere Verkehrskonzepte? Welche?

Nun wird niemand bestreiten, dass der sinnvolle (!) Einsatz digitaler, vernetzter Methoden zu alledem einen Beitrag leisten kann, aber bei den Grünen klingt das ein wenig undurchdacht. Ich kann diese neue Verbundenheit mit der Digitalisierung nicht so richtig einordnen, zumal die Grünen ja auch für Menschenrechte stehen. Die passen nun mal schlecht zur Digitalisierung, denn je mehr Daten ungehemmt gespeichert, analysiert und verbreitet werden, desto stärker und schneller zerbröckeln die Menschenrechte. Oder sollten die Grünen, derzeit auf einer populären Welle schwimmend, auf einmal so etwas wie Populismus für sich entdeckt haben? Was ist zur Zeit populärer als Digitalisierung und Klimaschutz?

Auch das Engagement der SPD für Digitalisierung kann ich nicht so richtig verstehen. Mit Klingbeil hat man sich einen Digi-Spezi an die Spitze geholt, aber ist das nur ein Zeichen von technologischer Aufgeschlossenheit, oder will man wie die FDP und bestimmte Kreise der CDU die Vernetzung gezielt und aktiv vorantreiben? Wie bei den Grünen passt hier so einiges nicht zusammen. Seit jeher steht die SPD für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für gerechte Belohnung, für die Beachtung von Arbeitnehmerrechten, für Chancengleichheit usw. Die Digitalisierung gefährdet aber diese Ziele zum Teil. Sie fördert das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen, sortiert Menschen mit unteren Bildungsabschlüssen gnadenlos aus, will Chancengleichheit auf der Basis von Algorithmen erreichen, was zu unmenschlichen Verhältnissen führt. Wie gesagt, Fragezeichen.

Zu allem Überfluss gibt es noch einen Aspekt, der allerdings nicht an die große Glocke gehängt wird und der sich hervorragend dem schwammigen Begriff „Digitalsierung“ zuordnen lässt: die digitale Überwachung. Vor allem die Innenminister, die sich – überaus populär – um die Sicherheit der Bürger sorgen, streben eine intensivere Überwachung an, im Verbund mit der Polizei. Genau das schlucken die Leute, und selbst China als Musterbeispiel für Totalüberwachung wirkt keineswegs abschreckend. Kann in einem demokratischen Staat ja nicht passieren, denkt man.

Missversteht man.

Was technisch möglich ist und wofür es einen noch so fadenscheinigen, aber populären Grund gibt, wird gemacht. Definitiv. Irgendwann. Die Mautbestrebungen sind nichts anderes als der Versuch, eine öffentliche Überwachungs-Infrastruktur für Bewegungsprofile aufzubauen. Selbst der häusliche Bereich scheint für einige Innnenpolitiker kein Tabu mehr zu sein, denn es wird erwogen, Zugriff auf die Geräte des SmartHome zu erlangen. Nein, nicht in China, in Deutschland! Letztlich haben die Bestrebungen, die künstliche Intelligenz voranzutreiben, ebenfalls eine Menge mit Überwachung zu tun, denn die Paradedisziplinen der KI, Gesichtserkennung und Sprachanalyse, gehören gleichzeitig zur hohen Schule der Personenüberwachung.

Hinter dem Begriff der Digitalisierung verbirgt sich also ein Sammelsurium der verschiedensten Betrebungen und Ziele, die nur eines gemeinsam haben: den Bezug zum Internet. Klare, konkrete Ziele fehlen weitgehend, wenn man mal von dem Breitbandausbau und der komischen Initiative, alle Klassenzimmer mit Smartboards auszustatten, absieht. Das ist nicht ungefährlich, denn Politik muss auch überprüfbar sein. Eindeutige Kriterien, die vor allem im Einklang mit dem Grundgesetz stehen, fehlen. Es gibt zwar erste Stimmen, z.B. die von unserem Bundespräsidenten auf dem Evangelischen Kirchentag, die dringend aufforrdern, die Digitalisierung an den Grundrechten zu orientieren, aber ob sie wirklich gehört werden, ist mehr als fraglich. Denn dass die Digitalisierung, angetrieben von amerikanischen Großkonzernen, in völlig falsche Richtungen läuft, für diese Erkenntnis braucht man keinen weitblickenden Bundespräsidenten. Etwas Mitdenken, etwas Verantwortungsbewusstsein hätten es auch getan.

Schon vor 10 Jahren.

Übrigens: Ein geradezu bizarres Beispiel für grenzenlose Digitalgläubigkeit präsentierte unsere Tageszeitung vorige Woche. Demzufolge sind deutsche Firmen besorgt, weil Italien wegen der populistischen Regierung zum Risiko-Markt wird. Ok, leicht nachzuvollziehen. Der Geschäftsführer der AHK (Außenhandelskammer) in Mailand, Jörg Buck, hatte prompt die Lösung parat. Ja, was wohl? Klar, zum Beispiel Investitionen in Künstliche Intelligenz oder in digitale Infrastruktur, um die Konjunktur wiederzubeleben.

Wie gesagt, Digitalisierung ist alles, so glauben inzwischen fast alle. Kein noch so großes oder noch so kleines Problem, das nicht mit Digitalsierung gelöst werden könnte. Bleibt nur die Frage, was der Menschheit neben der digitalen Problemlösungsmaschinerie noch bleibt.

 

PKW-Maut – mein letzter Beitrag …

zu diesem Thema natürlich.

Ich fürchte, das Thema Maut ist auch nach der Pleite, die der EGH der CSU bereitet hat, nicht vom Tisch. Als Scheuer seine Niederlage öffentlich gestehen musste, hörte man es förmlich knistern, so arbeitete es hinter seiner Stirn. Die muss doch zu retten sein, die Maut!

Fest steht, dass Scheuer zu weit vorgeprescht war. Er hat mit Investitionen in die Maut-Infrastruktur begonnen, bevor eine endgültige Entscheidung des EGH auf dem Tisch lag. Ausgesprochen dumm. Mehr noch, unser Verkehrsminister hat leichtsinnig etliche Millionen in den Sand gesetzt. Nennt man sowas nicht Veruntreuung, und ist das nicht ein Straftatbestand? Vielleicht nicht, man weiß ja nicht, welche Privilegien die CSU genießt.

Auf jeden Fall gibt es für etliche Leute in der CSU-Führungsriege ganz, ganz dringende Gründe, die Maut in irgendeiner Form noch zu retten, egal, welche Versprechungen vor Jahren gemacht wurden. Zum einen natürlich, um die getätigten Ausgaben nachträglich zu rechtfertigen, zum anderen, um die heiß begehrte Überwachungsstruktur, das eigentlich Ziel der Maut, trotz des Urteils ausbauen zu können. Ehrlich, ich habe ein verdammt ungutes Gefühl.

 

PKW-Maut – mein zweitletzter Beitrag

Gestern war das Ende der verdammten PKW-Maut in der CSU-Fassung, und heute sind natürlich die Zeitungen dran. Also, wie die Kommentatoren auf die Übeltäter eindreschen, da duckt man sich förmlich. Recht haben sie ja, denn die Ausländermaut war tatsächlich ein arges Schmierenstück, ein Politspektakel der übelsten Sorte. Ein Kommentator im Fernsehen brachte es auf den Punkt: Die Maut war (herrlich, diese Vergangenheitsform) nichts anderes als ein billiger Racheakt von beleidigten Bayern, die sich über die Maut in Österreich ärgern. Oder, wie es der grüne Hofreiter schon vor Jahren formulierte, eine in Gesetzestext gegossene Stammtischparole. Interessant, dass in den Kommentaren ein Tag nach dem Mautende mehrfach von einem bayrischen Stammtisch die Rede war.

Eines allerdings verwundert mich: Warum gibt es erst jetzt Kritik, nachdem der EGH dem widerlichen Schmierenstück ein Ende bereitete? Ich habe in den letzten 3 Jahren 6 oder 7 äußerst kritische Beiträge hier im Blog veröffentlicht. Um die Widerwärtigkeit des Maut-Unternehmens zu erfassen, braucht man doch nicht den EGH, oder? Sollte es im deutschen Journalismus Defizite geben, was das Rückgrat betrifft?

PKW-Maut – mein drittletzter Beitrag

Jubelgebrüll: Endlich ist die Scheiß- Scheiß- Scheiß-PKW-Maut vom Tisch. Endlich haben die Typen aus dem Süden Deutschlands, ich meine Dobrindt, Seehofer und Scheuer, vor allem natürlich Dobrindt, einen auf den Deckel gekriegt. Hoffentlich stark genug, dass sie sich fünf mal um die eigene Achse drehen. Endlich hat Europa gezeigt, wo es langzugehen hat, was europäische Haltung bedeutet. Heißa.

Aber noch gibt es keine endgültige Entwarnung, denn Scheuer betonte, die Maut in der geplanten Form sei wohl vom Tisch. Aber offensichtlich nicht die Maut an sich? Wann kapieren die Politiker eigentlich, dass Freizügigkeit ein wesentlicher Stützpfeiler der Freiheitsrechte ist, und dass deshalb die kostenlose Bereitstellung von unkontrollierten Verkehrswegen eine hoheitsrechtliche Aufgabe ist? Auch dann noch, wenn es in 20 anderen Staaten der EU anders gehandhabt wird?

Rundumschlag auf Youtube

Ich hocke vor dem PC und schaue mir das Youtube-Video von dem Rezo an, jenes Video, das die Vernichtung der CDU zum Ziel hat. Klar, wenn mehrere Millionen begeisterte Menschen das Video betrachtet haben, darf ich mich nicht ausklammern. Schließlich will ich mitreden können, und das heißt zunächst mal: mitwissen. Zu wissen, wie man die CDU kaputt macht, kann ja nicht schaden.

Was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Donnerwetter, der Junge kann reden. Eine knappe Stunde lang, locker vom Hocker, in einem Stil, der junge Leute förmlich mitreißt. Ehrlich, wenn ich noch jung wär, ich würde auf der Stelle ein großes Poster von Rezo an die Tür heften und mir die Haare blau färben. Und die jungen Leute haben sich von ihm ja begeistern lassen. Inwieweit die kurz darauf folgende Europa-Wahl von dem Video beeinflusst wurde, darüber kann man nur spekulieren. Will ich hier aber nicht.

Jedenfalls ist es bemerkenswert, wie gute Redner die Massen förmlich von den Sitzen reißen können. In der Geschichte gibt’s genügend Beispiele für die Mobilisierung von Menschenmassen durch Redner, die überzeugend auftreten. Die Ziele und die angesprochenen Menschengruppen variieren, aber immer kommt es darauf an, einen empfindlichen Nerv zu treffen. In diesem Fall ist es die Jugend, wobei sich auch viele Menschen zwischen 30 und 60 noch angesprochen fühlen. Ja, so geht Überzeugungsarbeit. Dass der gute Rezo wahrscheinlich nicht von sich aus aktiv wurde, sondern dass dahinter eine Werbefirma und evtl. ein bezahlter Auftrag steht – was soll’s.

Ohne Youtube wäre ein dermaßen überzeugender Auftritt natürlich nicht möglich gewesen. Youtube – die ideale Plattform für Selbstdarstellungen. Da kann man seine Person wirkungsvoll in den Lichtkegel stellen und die Kraft seiner Persönlichkeit so richtig zur Geltung kommen lassen. Für die effektive Verbreitung sorgen dann die Friends, die sich virtuos auf den sozialen Plattformen bewegen und die digitalen Flugblätter verteilen, stapelweise. Kurz: Der Rahmen für die CDU-Vernichtungs-Initiative stimmt in jeder Beziehung. Ich habe das Gefühl, dass Rezo bald einige Nachahmer findet, was Stil und Auftreten betrifft.

Aber stimmen auch die Inhalte? Ich muss sagen, spontan war ich diesbezüglich ebenfalls beeindruckt. Der Rezo hat da Dinge ausgesprochen, die ich der CDU liebend gern um die Ohren gehauen hätte – wenn ich gekonnt hätte. Aber leider bin ich kein Genie wie Rezo, ich kann hier nur Beifall klatschen. Denn was die wesentlichen Kritikpunkte betrifft, hat Rezo (oder der Auftraggeber im HIntergrund) ja recht: Der Kapitalismus mit seiner stets weiter auseinanderklaffenden Schere von Arm und Reich hat sich tatsächlich zu einem üblen Gebilde entwickelt. Die Klimapolitik war und ist tatsächlich viel zu zögerlich und unentschlossen. Oder dass die Bundesregierung es zulässt, dass Amerikaner von Ramstein aus Angriffe mit Drohnen steuern, ist tatsächlich ein Skandal. Auch, dass in Deutschland noch Atomwaffen gelagert werden. Die inhaltliche Kritik an der Politik der etablierten Parteien (es ist ja nicht nur die CDU gemeint) ist also durchaus berechtigt und keineswegs aus der Luft gegriffen.

Und dennoch erzeugen die Ausführungen von Rezo ein Unbehagen. Es mag ja stimmen, dass die Fakten richtig wiedergegeben werden, aber es fällt auf, dass keine Lösungsvorschläge gemacht werden. Um Lösungswege aufzuzeigen zu können, müssten die Probleme in ihrer ganzen Komplexität beschrieben werden, und genau da hapert es in dem Youtube-Beitrag. Wer eine umgehende und radikale Wende in der Klimapolitik fordert, muss bereit sein, den hunderttausenden in der Kohlebranche Beschäftigten zu sagen, dass sie von heute auf morgen arbeitslos werden. Er muss deutlich machen, dass es keine Bürgerinitiativen mehr geben darf, die sich nach dem St-Florians-Prinzip gegen die Verlegung von Stromnetzen vor der Haustür wehren. Er muss die gesamte Touristik-Branche in Frage stellen, einschließlich der eigenen Urlaubspläne. Usw. Oder wer sich lösungsorientiert gegen die amerikanischen Stützpunkte in Deutschland wendet, muss die Bündnisfrage erörtern. Oder wer mehr soziale Gerechtighkeit einfordert, muss den Kapitalismus mit seinem Investitions-Marketing in Frage stellen und letztlich sogar die globalen Verflechtungen.

Es ist relativ einfach, Missstände anzuprangern, doch deren Beseitigung ist zum großen Teil eine Frage von Abwägungen. Dass insbesondere die CDU in einer Reihe von Fragen falsche oder unglückliche Gewichtungen vorgenommen hat, ist für mich ohne weiteres nachvollziehbar, weshalb ich Rezos Kritik durchaus ernst nehme.

Aber es gibt noch zwei weitere Aspekte, auf die ich kurz eingehen möchte. Da ist zunächst die Reaktion der Regierung auf das Youtube-Video. Die Parteispitze wurde offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt, und in Anbetracht des schlechten Ergebnisses der Europawahl und der zeitlichen Platzierung des Videos zwei Tage vor der Wahl kann man die Bestürzung sogar verstehen. Insbesondere AKK versuchte, ihren Missmut zu formulieren. Aber sich darüber aufzuregen, dass jemand kurz vor der Wahl öffentlich davon abgeraten hat, CDU/CSU zu wählen, ist schlichtweg Quatsch. Warum soll ein Bürger keine Empfehlungen gegen eine Partei aussprechen dürfen, so wie es die anderen Parteien im Wahlkampf ja ebenso machen?

Der Hauptfehler von AKK war jedoch, dass sie nicht die Befindlichkeiten der Betroffenen berücksichtigte, vielleicht auch gar nicht kannte. Ein Großteil der meist jüngeren Bevölkerung lebt hauptsächlich im Netz, hat vielfach nur noch einen schwachen Bezug zur realen Welt. Freiheit ist für sie die Freiheit, im Netz alles sagen und zeigen zu dürfen, was sie möchten. Wer diese Freiheit durch Kontrolle begrenzen will, greift erheblich in die Lebensauffassung der Betroffenen ein und erntet wütende Proteste. Nun sind Proteste in einer demokratischen Gesellschaft vielleicht unbeqem, aber nichts Negatives, nichts, worüber man besorgt sein müsste. Doch die Proteste aus der digitalen Ecke haben eine besondere Qualität, denn sie befeuern einen besorgniserregenden Generationskonflikt, der wesentlich stärker und trennender ist als etwa zur Zeit der 1960er Protestwellen. Stärker deshalb, weil nicht nur eine überschaubare Gruppe von „Querdenkern“ auf die Straße geht, sondern eine gesamte Generation.

Das zweite, was noch zu erwähnen wäre, ist die außerordentliche Macht, die von den digitalen Medien ausgeht. Während die Kommunikationsplattformen wie Instagram oder Facebook diese Macht vor allem durch die Möglichkeit der explosiven Verbreitung erlangen, bietet Youtube vor allem die Kraft der beliebig ausgestaltbaren Ansprache von vielen Betrachtern mit intensiven medialen Mitteln. Zur analogen Zeit wurden die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten verpflichtet, sich in Punkto Perteinahme zurückzuhalten, wegen der Kraft, die von den bewegten Bildern ausgeht. Youtube ist inwischen viel, viel mächtiger als etwa die Fernsehanstalten, und dennoch gibt es keine Mittel, der Plattform irgendeine Zurückhaltung aufzuerlegen, es sei denn, es handelt sich um offensichtlich strafbare Beiträge oder um Verstöße gegen die prüde amerikanische Schein-Sexualmoral. Nun ist ein übermächtiges Medium an sich noch kein Problem, es sein denn, das Medium wird missbraucht. Und diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Rezo hat Youtube jedenfalls nicht missbraucht, da lauern ganz andere Leute bzw. Institutionen im HIntergrund.

Wie also reagieren auf ein Video wie das von Rezo? Einfach überhaupt nicht reagieren, wie es die Zunft der allzeit Besonnenen vorschlägt? Hm, ich weiß nicht. Oder auf Dorothee Bär hören, unsere Dilgital-Staatsministerin? Sie schlägt – wie auch anders – vor, dass Politiker stärker die sozialen Medien nutzen sollten. Diskussion über Youtube oder Facebook? Und das, obwohl chaotische Freiheit das Grundrecht der digitalen Medien ist? Hm, es gibt gute Aussichten, dass dieser Weg im Chaos mündet. Und: Sollte nicht ein twitternder Präsident genug sein?

Nein, es gibt m.E. nur einen vernünftigen Weg: die Beiträge in den digitalen Medien ernst nehmen, sofern sie ernst genommen werden können. Und dann sachlich und seriös darauf reagieren. Falls es sich bei den Beiträgen um Bullshit handelt, sollte man sie einfach nicht beachten. Vor allem aber kommt es darauf an, von vornherein einen Politikstil zu pflegen, der alle Bürger ernst nimmt.