In der Tat, Digitalisierung und KI haben sich an die Spitze vorgearbeitet; sie haben sich im Zentrum der Gesellschaft eingenistet und sind dabei, sich immer weiter aufzuplustern. Drumherum bleibt nicht mehr viel Platz für andere Lösungsansätze und Strategien. Das macht aber nichts, denn Digitalisierung und KI (= künstliche Intelligenz) sind die Mittel, um alle Probleme der Welt zukunftsgerecht und nachhaltig anzugehen und zu lösen.
Glaubt man, verkündet man, trommelt man.
Dabei sind die Begriffe zunächst nur Unsinn, „Kackwörter“, wie ich sie mal genannt habe. „Digitalisierung“ ist die schwammige Umschreibung für etwas, was die meisten Menschen nicht durchschauen oder sachlich vernünftig einordnen können. Je inflationärer der Begriff verwendet wird, desto stärker offenbart sich dahinter ein bestürzendes Halbwissen. Und „Künstliche Intelligenz“ ist ein zweischneidiges Schwert. Entweder haben die dahinter stehenden Algorithmen, trotz ihrer strukturellen Nähe zum biologischen Gehirn, nichts mit Intelligenz zu tun. Falls man dennoch irgendwann in den Bereich von Intelligenz vorrücken sollte (könnte), dann wäre das eine gefährliche, zerstörerische und unbedingt zu vermeidene Angelegenheit. Überhaupt sind die Früchte der KI schon jetzt mehr als zweifelhaft; sie haben das Zeug, viel zu zerstören und wenig zu verbessern. Siehe China. Aber das alles sind Überlegungen, die ich in verschiedenen Beiträgen bereits erörtert habe.
An dieser Stelle werden sich wahrscheinlich die meisten Leser ausklinken: Beitrag zu lang. Ja, er wird länger, dieser Beitrag, und wer nicht bereit (oder imstande) ist, einen längeren Text zu lesen, der kann getrost abhauen. Der Beitrag ist ohnehin nicht für Twitterkonsumenten oder Vielkommentarschreiber gedacht. Tschüs. Auf Facebook oder Twitter oder Instagram sehen wir uns allerdings garantiert nicht wieder.
Aber zurück zum Leitgedanken dieses Beitrags und zu meinem Erstaunen darüber, welche Leistungen man der Digitalisierung und der KI zutraut. Es muss ja seinen Grund haben, wenn diese – nennen wir’s mal: Anliegen – in aller Munde sind. Wenn man so herumhört, dann wird schnell klar: Digitalisierung ist Jugend und Zukunft, Fortschritt und Chance, Komfort und Bequemlichkeit, Kommunikation und Verbundenheit, Globalisierung und Offenheit, Freiheit und Sicherheit, Orientierung und Glaube. Ja, Digitalisierung ist alles. Und künstliche Intelligenz ist der Schlüssel zu einer völlig neuen Welt. Zu einer besseren, schöneren natürlich.
Glaubt man, verheißt man, predigt man.
Aber werfen wir einen Blick in die Gesellschaft und schauen uns an, wie die Leute zur Digitalisierung und zur KI stehen. Beginnen wir bei der jungen Generation, die das Internet mit all seinen Facetten weitgehend für sich reklamiert. Die jungen Leute reden nicht von Digitalisierung, sie leben digital. Sie haben die digitale Welt allerdings nicht geschaffen, das haben ältere Generationen getan; aber sie wurden hineingelockt und fühlen sich offenbar sauwohl darin. Ist ja auch bequem, einen großen Teil des mühsamen Reifungsprozesses einfach umgehen zu können. Zum Beispiel den Umgang mit Freiheit. Die Freiheit des Internets ist eine Heilige Kuh, und wenn jemand das Wort „Kontrolle“ ins Gespräch bringt, dann geht man auf die Straße. Die meisten jungen Leute verstehen unter der Freiheit des Netzes die uneingeschränkte Möglichkeit, alles sagen und schreiben zu dürfen was man möchte. Sie übersehen schnell, dass Freiheit immer eine Kontrolle benötigt. Persönliche Freiheit ist die Verlagerung von einer öffentlichen oder staatlich gelenkten Kontrolle in den persönlichen Kontrollraum. Gelegentlich wird in dem Zusammenhang von Verantwortung gesprochen, ohne die es keine echte Freiheit geben kann.
Aber das muss der Jugend in ernsthafter und ernstnehmender Weise beigebracht werden. Genau dieses muss ein Ziel der Digitalisierung der Schulen sein. Ob dazu ein Smartboard oder eine herkömmliche Schultafel behilflich ist, ist sowas von nebensächlich, von scheißegal! Das haben allerdings die meisten Politiker noch nicht kapiert, ich meine diejenigen, die die Schulen digitalisieren möchten und dabei nur an die technische Ausstattung denken. Laien in Sachen Schule, sie sollten die Ziele besser den Experten der Erziehungswissenschaften an den Hochschulen, Seminaren und Schulen überlassen, die können’s besser. Ganz bestimmt.
Und damit zur Politik. Ich glaube, alle Parteien (die AfD lassen wir mal außen vor) haben zwei große Ziele in ihre Agenda gepackt: Klimaschutz und eben Digitalisierung. Nehmen wir die FDP mit dem liberalen Oberlehrer Lindner. Kaum ein Statement, in dem nicht wiederholt der Begriff „Digitalisierung“ fällt. Was steckt dahinter? Nun, der FDP geht es ums Wohlergehen der Wirtschaft und der Industrie. Typischer Fall von Oben-unten-Denken: Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Reichen im Kapitalismus (pardon: die Besserverdienenden; pardon: die Leistungsträger) zu stärken. Gewinnoptimierung und Behauptung auf dem globalen Markt, darum geht es der Partei.
Aber damit stehen die FDP und mit ihr einige Kreise in der CDU nicht alleine da. Im Grunde geht es bei der gesamten Digitalisierung vor allem um Gewinne, um Geld und Macht. Making the world a better place? An diese Parole glauben die Leute, die sie immer wieder lautstark verkünden, selber nicht. Die Menschen mit der kritischsten Einstellung zum Internet und zur gesellschaftlichen Digitalisierung sitzen – im Silicon Valley. Klar, dort hat man den besten Blick hinter die Kulissen. Nein, es geht um Profite, um das Reibachmachen mit und im Internet. „Wertschöpfungen“ nennt man es in Deutschland und wünscht den Start-Uppern viel Erfolg. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn die großen amerikanischen IT-Unternehmen als besonders „wertvoll“ eingestuft werden. Facebook, Instagram & Co. sind nicht geschaffen worden, um den Menschen etwas Gutes an die Hand zu geben. Sie sind einzig und alleine deshalb geschaffen worden, um Geld zu verdienen. Viel Geld, Milliarden.
Nicht jeder in der Politik denkt vorrangig an Wirtschaftsleistung, an Macht im globalen Wettbewerb oder an technologische Rationalisierung. Dorothee Bär zum Beispiel, die Staatsministerin für digitale Angelegenheiten. Für sie scheinen die sozialen Medien und deren möglichst intensiver Gebrauch höchste Priorität zu haben. Noch mehr Smartphone-Fummelei, noch mehr Daten, noch mehr digitale Kontakte, noch mehr kommunikatives Rauschen, noch mehr Scheinkomfort im täglichen Leben. Dass alle diese wohlfeilen Anliegen auch ihre negativen Seiten haben, wird – wenn überhaupt – nur flüsternd eingestanden. Man reibt sich verwundert die Augen, wenn angesichts einer völlig überdigitalisierten Medienlandschaft auf stärkere Digitalsiierung gedrungen wird. Oder wenn in einer Informationsgesellschaft, die mehr und mehr in Lügen und gesteuerten, manipulativen Halbwahrheiten erstickt, die digitalen Informationskanäle gefördert werden sollen. Oder wenn in einer zunehmend kontaktarmen Gesellschaft mit den unvermeidlichen Verrohungseffekten noch mehr Kontakte ins Netz verlagert werden sollen. Kontakte, die im Grunde keine sind, sondern nur Zähleinheiten. Soziale Aktivität, gemessen an der Zahl von Likes und Followern.
Aber das liebt man, und damit begnügt sich die Gesellschaft.
Bemerkenswert ist die Haltung der Grünen zur Digitalisierung. Vor kurzem verkündete die Parteispitze die vorrangigen Ziele für die Zukunft: Klimaschutz und – Digitalsierung. Ok, auf den Klimaschutz brauchen wir nicht einzugehen, es wäre schon komisch, wenn der bei den Grünen nicht an erster Stelle stehen würde. Aber Digitalisierung? Was meint die Parteispitze damit? Will man digitale Methoden verwenden, um die natürlichen Ressourcen zu schonen? Oder um den Kohlendioxidausstoß zu regulieren und damit zu vermindern? Geht es um neue, umweltverträglichere Verkehrskonzepte? Welche?
Nun wird niemand bestreiten, dass der sinnvolle (!) Einsatz digitaler, vernetzter Methoden zu alledem einen Beitrag leisten kann, aber bei den Grünen klingt das ein wenig undurchdacht. Ich kann diese neue Verbundenheit mit der Digitalisierung nicht so richtig einordnen, zumal die Grünen ja auch für Menschenrechte stehen. Die passen nun mal schlecht zur Digitalisierung, denn je mehr Daten ungehemmt gespeichert, analysiert und verbreitet werden, desto stärker und schneller zerbröckeln die Menschenrechte. Oder sollten die Grünen, derzeit auf einer populären Welle schwimmend, auf einmal so etwas wie Populismus für sich entdeckt haben? Was ist zur Zeit populärer als Digitalisierung und Klimaschutz?
Auch das Engagement der SPD für Digitalisierung kann ich nicht so richtig verstehen. Mit Klingbeil hat man sich einen Digi-Spezi an die Spitze geholt, aber ist das nur ein Zeichen von technologischer Aufgeschlossenheit, oder will man wie die FDP und bestimmte Kreise der CDU die Vernetzung gezielt und aktiv vorantreiben? Wie bei den Grünen passt hier so einiges nicht zusammen. Seit jeher steht die SPD für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für gerechte Belohnung, für die Beachtung von Arbeitnehmerrechten, für Chancengleichheit usw. Die Digitalisierung gefährdet aber diese Ziele zum Teil. Sie fördert das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen, sortiert Menschen mit unteren Bildungsabschlüssen gnadenlos aus, will Chancengleichheit auf der Basis von Algorithmen erreichen, was zu unmenschlichen Verhältnissen führt. Wie gesagt, Fragezeichen.
Zu allem Überfluss gibt es noch einen Aspekt, der allerdings nicht an die große Glocke gehängt wird und der sich hervorragend dem schwammigen Begriff „Digitalsierung“ zuordnen lässt: die digitale Überwachung. Vor allem die Innenminister, die sich – überaus populär – um die Sicherheit der Bürger sorgen, streben eine intensivere Überwachung an, im Verbund mit der Polizei. Genau das schlucken die Leute, und selbst China als Musterbeispiel für Totalüberwachung wirkt keineswegs abschreckend. Kann in einem demokratischen Staat ja nicht passieren, denkt man.
Missversteht man.
Was technisch möglich ist und wofür es einen noch so fadenscheinigen, aber populären Grund gibt, wird gemacht. Definitiv. Irgendwann. Die Mautbestrebungen sind nichts anderes als der Versuch, eine öffentliche Überwachungs-Infrastruktur für Bewegungsprofile aufzubauen. Selbst der häusliche Bereich scheint für einige Innnenpolitiker kein Tabu mehr zu sein, denn es wird erwogen, Zugriff auf die Geräte des SmartHome zu erlangen. Nein, nicht in China, in Deutschland! Letztlich haben die Bestrebungen, die künstliche Intelligenz voranzutreiben, ebenfalls eine Menge mit Überwachung zu tun, denn die Paradedisziplinen der KI, Gesichtserkennung und Sprachanalyse, gehören gleichzeitig zur hohen Schule der Personenüberwachung.
Hinter dem Begriff der Digitalisierung verbirgt sich also ein Sammelsurium der verschiedensten Betrebungen und Ziele, die nur eines gemeinsam haben: den Bezug zum Internet. Klare, konkrete Ziele fehlen weitgehend, wenn man mal von dem Breitbandausbau und der komischen Initiative, alle Klassenzimmer mit Smartboards auszustatten, absieht. Das ist nicht ungefährlich, denn Politik muss auch überprüfbar sein. Eindeutige Kriterien, die vor allem im Einklang mit dem Grundgesetz stehen, fehlen. Es gibt zwar erste Stimmen, z.B. die von unserem Bundespräsidenten auf dem Evangelischen Kirchentag, die dringend aufforrdern, die Digitalisierung an den Grundrechten zu orientieren, aber ob sie wirklich gehört werden, ist mehr als fraglich. Denn dass die Digitalisierung, angetrieben von amerikanischen Großkonzernen, in völlig falsche Richtungen läuft, für diese Erkenntnis braucht man keinen weitblickenden Bundespräsidenten. Etwas Mitdenken, etwas Verantwortungsbewusstsein hätten es auch getan.
Schon vor 10 Jahren.
Übrigens: Ein geradezu bizarres Beispiel für grenzenlose Digitalgläubigkeit präsentierte unsere Tageszeitung vorige Woche. Demzufolge sind deutsche Firmen besorgt, weil Italien wegen der populistischen Regierung zum Risiko-Markt wird. Ok, leicht nachzuvollziehen. Der Geschäftsführer der AHK (Außenhandelskammer) in Mailand, Jörg Buck, hatte prompt die Lösung parat. Ja, was wohl? Klar, zum Beispiel Investitionen in Künstliche Intelligenz oder in digitale Infrastruktur, um die Konjunktur wiederzubeleben.
Wie gesagt, Digitalisierung ist alles, so glauben inzwischen fast alle. Kein noch so großes oder noch so kleines Problem, das nicht mit Digitalsierung gelöst werden könnte. Bleibt nur die Frage, was der Menschheit neben der digitalen Problemlösungsmaschinerie noch bleibt.