Corona-Warn-App

Laut Zeitungsbericht (IVZ von heute)  haben sich rund 300 Experten gegen die geplante Corona-Tracing-App ausgesprochen. Stattdessen befürworten sie eine Lösung, bei der die Daten nicht zentral gesammelt und ausgewertet, sondern in den einzelnen Smartphones verbleiben. Sie befürchten eine steigende Überwachung der Bürger.

Zu recht, keine Frage. Ein Überwachungsstaat wird nicht durch einen Beschluss oder ein Referendum ins Leben gerufen, sondern er entwickelt sich, Schritt für Schritt. Und da meistens die einzelnen Schritte gut zu begründen sind und infolgedessen auf große Akzeptanz stoßen, ist die Rücknahme von Überwachungsmaßnahmen illusorisch. Die kontinuierliche Steigerung ist nur zu verhindern, indem konsequent kein Schritt zu mehr Überwachung zugelassen wird, und mag er noch so klein sein. Von daher sind die Bedenken nachvollziehbar.

Nein, die an und für sich zu begrüßende Initiative der kritischen Experten ist nicht ohne Beigeschmack. Daten sollen nur in den Smartphones gespeichert werden? Wie kommen sie überhaupt darauf? Im Zeitungsbericht wird erwähnt, dass diese Beschränkung vor allem auch von Google und Apple bevorzugt wird. Und jetzt müssten doch alle Alarmglocken schrillen. Google und Apple, die beiden Konzerne, die über die Betriebssysteme Android  und iOS fast alle Smartphones weltweit kontrollieren und ohnehin Zugriff auf die in den Geräten gesammelten Daten haben! Klar, dass sie die einzigen sein wollen, die auf diese wichtigen Daten zugreifen können, und deshalb sind sie gegen eine Lösung, bei der auch Institutionen wie das Robert-Koch-Institut mitmischen. Die exklusive Zugriffsmöglichkeit auf Daten erhöht deren Wert, und zwar beträchtlich.

Verdammt, wie naiv seid ihr eigentlich alle? Und erklärt mit bitte, warum ihr nicht stutzig werdet, wenn Apple und Google die technischen Voraussetzungen für das Corona-Tracing in ihren Betriebssystemen verankern wollen, entgegekommenderweise. Tracing, dass sich mit wenigen Handgriffen seitens der großen Brüder im Silicon Valley auf allgemeine Kontakt- und Standortbeobachtung aller Smartphone-Menschen verallgemeinern lässt. Geht schneller und mit weniger Aufwand als durch die umständliche Gesichtserkennung wie in China.

 

Verschwörungstheorien

Verschwörungstheorien entstehen dann, wenn schwerwiegende Ereignisse nicht restlos aufgeklärt werden können oder wenn die Leute sich gegen bestimmte Tatsachen sperren. Der gesunde Menschenverstand wird dabei weitgehend ausgeklinkt. So ranken sich immer noch Verschwörungstheorien um das Attentat auf Kennedy oder um den Selbstmord von Barschel. Der Flugzeugabsturz der polnischen Maschine in Russland mit dem polnischen Präsidenten an Bord ist ebenfalls ein dankbares Objekt für Verschwörungstheorien.

Und nun die Entstehung des Corona-Virus. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Sachverhalt niemals vollständig aufgeklärt werden; insofern ist es ein Dauerthema für Verschwörungstheorien. Zur Zeit gibt es m.W. vier Erklärungsversuche, von denen zwei davon so absurd sind, dass man sie gleich verwerfen kann: Die eine Erklärung kommt von der chinesischen Seite, die behauptet, die Amerikaner hätten gezielt das Virus nach Wuhan gebracht. Das ist genau so unsinnig wie die Behauptung einiger Amerikaner, die Chinesen hätten das Virus bewusst in Umlauf gebracht, um der Welt zu schaden. Doch nichts ist so absurd, dass nicht eine Verschwörungstheorie daraus entstehen könnte.

Ernsthaft in Erwägung zu ziehen sind zwei weitere Erklärungsversuche. Von chinesischer Seite wird behauptet, das Virus sei auf einem Wochenmarkt für Wildtiere auf die Menschen übergesprungen. Kann natürlich sein. Die Amerikaner dagegen behaupten, das Virus habe sich in dem in Wuhan angesiedelten Forschungszentrum für Virologie verselbständigt und quasi befreit.

Wie gesagt, zwei Theorien, die sich wohl nie belegen lassen. Da bleibt nur die Abwägung: Welcher Erklärungsversuch ist plausibler? Wildtiere auf dem Wochenmarkt? Möglich, aber eher unwahrscheinlich, denn die Chinesen verspeisen seit Menschengedenken Tiere aller Art. Nie ist etwas passiert, und ob Tiere überhaupt als Wirte für Corona-Viren geeignet sind, ist ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich. Ganz anders die Sache mit dem Forschungszentrum. Es ist bekannt, dass die Chinesen mit aller Gewalt an Hitech-Lösungen für alles Denkbare arbeiten, und zwar unter strenger Geheimhaltung. Moderne Forschung reicht oft in technisch-wissenschaftliche Grenzbereiche hinein, ein Arbeiten hart am Abgrund, und schon ein kleiner Fehler kann den Absturz in die Tiefe zur Folge haben. Ähnliches gilt ja auch für die Gen-Forschung oder die KI-Forschung.

Einen weiteren Hinweis liefert die hinausgezögerte Bekanntmachung des Virus seitens der chinesischen Regierung. Die Leute aus Wuhan, die gleich zu Beginn vor dem Virus warnten, wurden dafür sogar bestraft. Wäre das bei einer Erstinfektion auf dem Wochenmarkt, für die niemand verantwortlich ist, ähnlich gewesen? Wahrscheinlich nicht. Weshalb also wollte die chinesische Regierung das Auftreten des Virus unbedingt geheim halten, als es noch ging?

Abschließend noch ein Blick auf Verschwörungstheoretiker, die mit Corona nichts zu tun haben. Ich meine die Holocaust-Leugner. Sie klammern sich an Erklärungsversuche, mit denen sie die geschichtlichen Fakten als falsch darlegen wollen. Sie sind durchaus erfolgreich, denn je unerträglicher es ist, Fakten zu akzeptieren, desto bereitwilliger folgen die Menschen den Verschwörungstheoretikern. Raffiniertes Spiel mit menschlichen Schwächen. Die beste Bekämpfung von Verschwörungstheorien – und damit sind wir wieder bei Corona – ist der transparente Umgang mit den Fakten. Hier hat sich China auf jeden Fall ganz schwer an der Welt vergangen.

Zukunftsmodelle?

Not macht erfinderisch und lässt die Menschen Wege entdecken, die in guten Zeiten nicht sonderlich beachtet werden. Und klar, zur Zeit des Digitalisierungs-Hype wird bei jedem (!) auftauchenden Problem zuerst mal nach einer digitalen Lösung gesucht. Und für Behelfslösungen in Notsituationen ist die Digitalisierung echt gut, so auch, wenn es um Corona geht. HomeOffice, HomeSchooling (nach meinem Sprachgefühl das widerlichste Wort im deutschen Sprachgebrauch), kontaktloses Quatschen über die Netzplattformen, Video-Konferenzen, intensives Sich-lieb-haben per Digitalkommunikation, Onlinekäufe (au ja) usw. usf. Und dann natürlich noch das vielversprechende Corona-Tracing mittels Smartphone. Na ja, ein paar digitalfreie Lösungsansätze gibt es natürlich ebenfalls, so die Vermummung mit Gesichtsmasken, kein Händeschütteln und erst recht keine Küsschen auf linke und recht Backe.

So fremd alle diese Einschränkungen zuächst erscheinen – man gewöhnt sich. Ja, man gewinnt das eine oder andere richtig lieb, denn über Gewohnheiten muss man nicht groß nachdenken, und schon deshalb sind sie liebenswert. Und so ist es nur verständlich, wenn bereits die ersten zukunftsorientierten Bürger aus der Deckung kommen und – zunächst noch leise – betonen, dass viele der Maßnahmen doch ganz gute Modelle für die Zeit nach Corona sein könnten.

Meine Antwort ist ein klares Nein. Das alles sind wirklich nur Behelfsmaßnahmen, die verworfen werden müssen, so schnell es eben geht. Schon bevor das Corona-Virus über die Welt hinwegfegte, litt die Gesellschaft an einer Überdigitalisierung und, daraus folgend, an einem gravierenden Mangel an unmittelbaren, persönlichen Kontakten. Die Resultate waren überdeutlich und äußerten sich zum Beispiel in der Verflachung und Verrohung der zwischenmenschnlichen Kommunikation. Das alles wird durch die derzeitige, notgedrungene Hinwendung zu noch mehr Digitalsierung vervielfacht. Wenn das ganze Theater mal vorbei ist, dann kann es nur eines geben, nämlich die Neubelebung und Intensivierung der persönlichen Direktkontakte.

Aber ich denke, die Menschen werden von sich aus erkennen, das „HomeSchooling“ (Scheißwort) ebenso erfolglos wie demotivierend ist. Lernen braucht ein soziales Umfeld. Punkt. Beim HomeOffice ist es nicht so dramatisch, aber auch Berufstätige brauchen den persönlichen Kontakt zu Kollegen, meistens jedenfalls. Die Probleme, die sich beim Arbeiten zu Hause vielfach ergeben, will ich gar nicht mal erwähnen.

Und was ist mit dem Corona-Tracing, jener App, die sich viele Leute sehnlichst herbeiwünschen? Es kann Gründe geben, diese App einzusetzen, obwohl jedem klar sein muss, dass das Versprechen nach Anonymisierung nicht eingelöst werden kann. Und außerdem sollte jedem klar sein, dass die gewonnenen Daten für immer gespeichert sein werden – unauslöschbare Spuren. Ein entscheidender Faktor wird nämlich oft nicht beachtet: Kontaktsperren, die Stilllegung des öffentlichen Lebens usw., das sind alles Maßnahmen, die sich quasi von selbst aufheben, wenn sie nicht zwingend mehr erforderlich sind. Andere Einschränkung wie HomeOffice oder Videokonferenzen werden immer auf einige Zeitgenossen ihren Reiz ausüben, aber die Mehrheit der Bevölkerung wird wahrscheinlich bald die Nase davon voll haben. Mund-Nasen-Schutz? Ich denke, diese Accessoires werden dauerhaft ihre Liebhaber finden, zumal sie auch den Nebenzweck der Vermummung erfüllen. Ich kann mir gut vorstellen, dass mancher Modeschöpfer bereits darüber nachdenkt, passende Masken in die Kollektion einzubauen.

Doch die Daten des Corona-Tracings werden wahrscheinlich immer verfügbar sein; hier ist kein Schlussstrich zu erwarten. Vor allem aber ist das Tracing ein weiterer Schritt hin zu einer allgemeinen Überwachung von Bürgern, und alle Erfahrungen deuten darauf hin, dass mit jeder geöffneten Tür eine weitere Tür zum Öffnen verlockt. Mit Anonymisierung und Freiwilligkeit ist es noch nicht getan, sondern es müssen überprüfbare Mechanismen zum endgültigen Löschen aller Tracing-Daten installiert werden. Ob das möglich ist? Und wenn ja, ist das überhaupt gewünscht?

Bleibt abschließend noch ein kurzer Blick auf die Vorbilder. Nein, ich will jetzt nicht den Blick nach Norden richten, in die digitalen Traumländer Skandinaviens oder des Baltikums. Südkorea wird immer wieder mal als Vorbild in der Bewältigung der Corona-Krise vorgestellt: Testen, was die üppig ausgestatteten Labore hergeben, Mund-Nasen-Schutz bei jedem und überall und jederzeit, dazu die konsequente Kontaktüberprüfung jedes Bürgers per App. Freiwilligkeit? Die Frage stellt sich nicht, denn jeder Bürger im Lande des Samsung-Konzerns führt ständig das Smartphone mit sich herum. Jeder. Das heißt, eigentlich ist es eher umgekehrt: die allgegenwärtigen Smartphones führen die Bürger durch die Gegend, vermummte Menschenmassen ohne Gesichter. Moderne Leute eben. Und natürlich gesund – zumindest körperlich.

In die Fresse …

Nein, ich will jetzt nicht aggressiv werden, und wenn es mich danach gelüsten würde, dann bestimmt nicht in einem zahmen Blog, sondern auf den verbalen Schlachtfeldern wie Facebook usw. Es geht hier um etwas anderes, nämlich wieder einmal um die Corona-Pandemie.

Hoffentlich kapieren es die Menschen: Das Coronavirus hat der Menschheit so richtiggehend in die Fresse gehauen, und zwar der gesamten Menschheit. Schon mehren sich die Stimmen, die verlangen, möglichst schnell wieder die herrlichen Vorcorona-Zustände herzustellen. Doch genau das darf nicht geschehen; wir müssen die Krise als ernste Mahnung verstehen, dass vieles nicht gut gelaufen ist, ja, dass die Pandemie gewissermaßen sogar eine Folge der bisherigen Missstände ist.

Plötzlich auftretende Krankheitserreger, auch neue, unbekannte Erreger, wird es immer geben, egal ob sie auf einem chinesischen Wochenmarkt oder als Folge einer durch Genmanipulation bewirkten Mutation in Erscheinung treten. Wir sollten dankbar sein, dass das Corona-Virus so relativ harmlos ist. Stellen wir uns ein Virus vor, dass sich vergleichbar schnell verbreitet, aber zu 90% tödlich verläuft und nicht zu 1-2% wie Corona. Dann ginge es nur noch ums nackte Überleben von wenigen Menschen.

Epedemien hat es immer gegeben, aber dass eine Epedemie in kurzer Zeit zu einer weltweiten Pandemie auswächst, ist schlichtweg eine Folge der globalen Vernetzung, die ja nicht nur auf Kommunikationsebene stattfindet. Hier geht es vor allem um die globale Mobilitätsvernetzung. Reisen für Jedermann, egal, in welchen Winkel der Erde. Produktionsketten, die den gesamten Globus überspannen und nicht nur die Klimazerstörung anheizen, sondern auch für die wirtschaftlichen Supererfolge der ohnehin schon wirtschaftlich starken Staaten sorgen – auf Kosten anderer. Verlagerung von Produktion in Billiglohnländer, Warenbeschaffung aus allen Erdteilen usw., das alles gehört in diesen Problemkreis, der aber von den meisten Zeitgenossen nicht als Problemfall, sondern als Errungenschaft modernen, erfolgreichen Lebens eingeordnet wird. Immer mehr, immer größer, immer weiter, immer schneller, immer umfassender, immer komfortabler, dieses alles hat sich in der Menschheit zu eine Grundprinzip entwickelt und letzten Endes die Globalisierung beflügelt.

Nur eines will man nicht gerne wahrnehmen: Eine weltumspannende Vernetzung ist gleichzeitig die ideale Infrastruktur für weltweite Zerstörungen. Das Corona-Virus ist so ein Störenfried, aber nicht der einzige. Denken wir nur daran, welche Formen von gobaler Vernetzung es gibt (eine Menge), und öffnen wir einfach nur die Augen für die potentiellen Missbrauchspotentiale der einzelen Netze, dann sind wir auf einem guten Weg, die Zeit nach Corona anders, vor allem aber kritischer zu gestalten. Sich zum Beispiel nur an die Digitalisierung zu klammern, ist einfach nur blöd und naiv. Es geht um wichtigere Werte, für die es keine technischen Lösungen gibt. Das sollten wir bedenken, wenn die lädierte Visage der Menschheit langsam verheilt.

Übrigens: Von den vielen globalen Netzen gibt es nur eines, das frei von Nebenwirkungen und Störanfälligkeit ist, nämlich das Netz von Verantwortlichkeiten für den Planeten. An dem Wohlergehen des einen Planeten müssen alle Staaten der Erde gemeinsam arbeiten und ihre globalen Verantwortungen abstecken – in Absprache untereinander. Dieses Netz ist nicht nur das wichtigste, sondern gleichzeitig das erfolgloseste. Wenn in der Corona-Krise auf einmal wieder die nationalen Grenzen als Dehnungsfugen ausgemacht werden, dann sollte das ein Warnsignal sein, ein Hinweis, dass es ein einfaches Zurück nicht geben darf.

Noch einmal: Corona-Apps

Ich muss noch einmal auf die geplanten Corona-Tracing-Apps eingehen. Vor einigen Tagen brachte das Heute-Journal ein Interview mit einem renommierten und – wie Klaus Kleber versicherte – kritischen Juristen, um das Für und Wider der Corona-Apps zu diskutieren. Kleber vertrat mit seinen Äußerungen und Fragen die Sache des Datenschutzes; der Jurist (noch einmal: als digitalkritischer Jurist angekündigt) vertrat die Ansicht, diese App sei unbedingt empfehlenswert. Es legte auseinander, dass die Anonymität Bedingung sei, aber unter der Voraussetzung, dass die App von seriösen Instanzen programmiert werde, durchaus gewährleistet sei. Selbst die Benachrichtigung der evtl. von Infektion bedrohten Bürger erfolge anonym über das Smartphone.

Was die Freiwilligkeit der Benutzung betrifft, bekannte sich der Jurist ebenfalls grundsätzlich zum freiwilligen Einsatz, allerdings ein wenig zurückhaltender als in Sachen Anonymisierung. In Andeutungen war die Rede davon, evtl. Geräte für die Smartphone-Muffel bereitzustellen, und im übrigen habe ja auch jeder eine Verantwortung für das Wohlergehen der Gemeinschaft. Na ja, so etwas wie Freiwilligkeit für die Verantwortungslosen.

Das ganze Interview kam mir ein wenig so vor wie eine dialektische Inszenierung mit dem Ziel, die Vorbehalte gegenüber den Apps zu zerstreuen. Ich kann mich aber auch täuschen und bitte in diesem Fall den Moderator um Entschuldigung. Doch die Positionen waren mir ein wenig zu klar abgesteckt, zu gezielt gegensätzlich; die Antworten des Juristen ein wenig zu flüssig und vorbereitet. Außerdem fiel mir auf, dass Klaus Kleber den Juristen fast immer aussprechen ließ, was überhaupt nicht seinem Interview-Stil entspricht. Normalerweise ist Kleber geneigt, dem Gesprächsparter in die Parade zu fahren, wenn irgendetwas anders läuft als geplant. Also, alles ein wenig glatt, zu glatt für die komplexe Materie.

Muss ich nun meine Meinung, die ich bereits in einem anderen Beitrag kundtat, revidieren? Der Jurist argumentierte ja dermaßen überzeugend, dass man durchaus wanken kann, wenn man eine andere Position vertritt. Am eindringlingsten versuchte er, die Bedenken bezüglich der Anonymität zu zerstreuen. Genau das ist auch für mich der springende Punkt.

Nein, ich bin anderer Meinung als der zugeschaltete Gast in der Heute-Sendung. Eine Anonymisierung liegt nur dann vor, wenn die Bezüge zu realen Personen unwiderbringlich gekappt werden. Genau das kann aber nicht funktionieren, denn das ganze Verfahren basiert auf den Positionsdaten von Smartphones, und Smartphones lassen sich nicht vom Benutzer abkoppeln.

Sicher, die App mag auf die Indizierung mit realen Personendaten verzichten und stattdessen ID-Codes verwenden. Aber dass dieses endgültig und unumkehrbar eingehalten wird, kann niemand garantieren. Ein paar Handgriffe, und an Stelle von anonymen IDs tauchen Personennamen auf. Es ist, als arbeite die Auswertungsstelle mit einer Liste, die zwei Spalten hat: links die realen Personennamen, rechts daneben die jeweiligen IDs. Nun wird Anonymität versprochen, und man hält das Versprechen auch, indem man ein Blatt Papier über die linke Spalte legt. Mehr ist die Anonymität nicht wert.

Im übrigen kann man nur betonen, dass eine echte Anonymisierung überhaupt nicht möglich ist, wenn Smartphones im Spiel sind. Smartphones sind immer zu orten und zu identifizieren, und genau diese Merkmale werden bei den geplanten Tracing-Apps ja ausgenutzt. Um echte Anonymisierung kann es sich also nicht handeln.

Doch ich will mal positiv an die Sache herangehen und annehmen, dass die Auswertungsinstitute die Algorithmen tatsächlich nur mit anonymen Datensätzen füttern. Um Im Bild mit den zwei Spalten zu bleiben: Ich gehe mal davon aus, dass die Auswerter nicht auf die linke Spalte mit den Realnahmen schauen, also einfach die Augen zumachen. Dann bleibt immer noch das Problem, dass im Hintergrund Leute sitzen, die überhaupt nicht daran denken, die Augen zuzumachen.

Ich glaube, die meisten Menschen sind der Meinung, dass sie über ihr Smartphone verfügen und es (als eingebildete Besitzer) nach ihren Maßgaben benutzen können. Irrtum! Die mobilen Betriebssysteme sind alles andere als autark, sie sind nichts weiter als von fern gesteuerte Filialen der großen Betriebssysteme der Betreiber. Das gilt sowohl für Android von Google als auch für iOS von Apple. Das mobile Windows scheint zwar keine große Rolle zu spielen, aber auch die Redmonder machen’s genau so wie die beiden Betreiber im Silicon Valley. Also, alles, was mit dem Smartphone gemacht wird, erfolgt in Kooperation mit der Software auf den Zentralservern. Und machen wir uns nichts vor: Die Betreiber haben nicht das geringste Interesse daran, die Daten der Kunden zu achten. Im Gegenteil: Sie verdienen eine Menge Geld mit diesen Daten; die Daten sind ein Teil ihres Geschäftsmodells. Und natürlich gehen sie mit den Daten nicht in aller Öffentlichkeit hausieren, wozu auch? Datengeschäfte lassen sich fast immer unter der Hand erledigen. Sicher, manchmal fliegen sie auf, wie im Fall des Geschäftes zwischen Facebook und Cambridge Analytica. Dann entschuldigt man sich (Zuckerberg hat inzwischen Übung darin), und die Sache ist erledigt.

Fazit: Egal, wie sorgfältig und verantwortungsvoll einige Auswertungsfirmen mit den Daten auch umgehen, das Smartphone auf Basis des App-Systems erlaubt keine Anwendungen, bei denen sensible Daten im Spiel sind. Es sei denn, die Anwendungen sind so wichtig, dass Datenschutz keine Rolle mehr spielt. Mag sein, dass das Corona-Tracing wichtig genug ist, aber dann sollte man so ehrlich sein und nicht von Anonymisierung und geschützten Daten sprechen.

Damit ich nicht missverstanden werde: Grundsätzlich kann es eine gute und wichtige Sache sein, wenn derartige Daten in großer Fülle zum Schutz der Gesundheit oder für Forschungszwecke erhoben und ausgewertet werden. Nur müssen die Daten dann wirklich anonym sein und bleiben, was mit dem Smartphone und dem App-System nicht gewährleistet ist. Vielleicht ist es langsam an der Zeit, mal über alternative Gerätestrukturen nachzudenken – und natürlich auch über alternative, dezentrale (bzw. spezielle) Vernetzungen. Big Data in Verbindung mit dem Internet darf es nicht geben, wenn es um so persönliche Dinge wie Krankheiten geht. Ähnliche Kriterien gelten übrigens auch für die geplante Gesundheitskarte. Raus aus dem Internet, hinein in spezielle Netze, dann gewinnt man enorme Spielräume für sichere, seriöse Anwendungen.

Traumland Estland

Andreas Klinner hat es, so wie ich mitbekommen habe, schon zweimal gründlich in der Sendung „Heute in Europa“ thematisiert. Ich meine den hohen Entwicklungsstand in Estland, wenn es um die Digitalisierung geht. Ein Traumland, ein Land, das Deutschland um Tera…irgendwas voraus ist. So drückte es die Moderatorin in der heutigen Folge (3.4.20) der Sendereihe aus. Und dann folgte der Blick in jenes überirdische Land, wo alles, wirklich alles digital läuft und das lahmarschige Deutschland wie ein Entwicklungsland aussehen lässt.

Das Loblied auf den baltischen Staat am Finnischen Meerbusen hatte etliche Strophen. Eine davon besang die paradiesischen Verhältnisse, die man bereits den Kleinsten der Gesellschaft bereitet. Schon im Kindergarten ist der Gebrauch des Smartphones eine Selbstverständlichkeit, für jedes Kind. Wie gesagt, ein Träumchen, ein Vorbild, zu dem man nur mit leuchtenden Augen aufschauen kann.

Eine Frage habe ich allerdings: Kann mir irgendjemand plausibel erklären, warum es gut oder nachahmenswert sein soll, wenn bereits Kinder im Kindergartenalter auf dem Smartphone herummachen? Die Frage könnte man auf etliche Digital-Sachverhalte in Estland ausdehnen.

 

Unkenntnis und Naivität

In normalen Zeiten klammern sich die Leute an die Digitalisierung, weil sie nach Komfort und Bequemlichkeit lechzen; jetzt, wo Corona grassiert, klammern sie sich ebenfalls an die Digitalisierung, wie Schiffbrüchige am Treibholz. Diesmal geht es ums Überleben, und wie das so ist, wenn Angst die Gesellschaft schüttelt, dann werden alle Bedenken in die hinterste Ecke gestellt. Nichts ist so abstrus, dass man es nicht in Erwägung ziehen wollte; nichts ist so schlimm, dass man es in der Krise nicht relativieren wollte.

Der Gedanke: Corona-Infizierte sollen mit einer Smartphone-App überwacht werden, um Kontaktpersonen ausfindig machen und Infektionsketten verfolgen und unterbrechen zu können. Sicher, ein wichtiges Anliegen, aber eine derartige App würde alles in den Schatten stellen, was die Digitalisierung bereits an Menschwürde und Grundrechten zerstört hat. Selbst bei Abgebrühten löst schon der Gedanke an ein solches Verfahren schieres Entsetzen aus, zumindest bei jenen, die sich ein Leben ohne Menschenwürde nicht vorstellen wollen. Da sich die Befürworter der Corona-App dieses Entsetzens bewusst sein, bringen sie relativierende Aspekte ins Spiel, nach dem Motto: alles halb so schlimm, wenn wir es richtig machen. Es sind im wesentlichen drei Argumente, die ins Feld geführt werden, um die Zweifel der Kritiker zu zerstreuen:

  1. Die anfallenden Daten sollen anonymisiert werden. (Natürlich!)
  2. Nach Beendung der Pandemie werden die Daten gelöscht. (Selbstredend!)
  3. Frau Merkel fügte noch hinzu, dass die Teilnahme an der Aktion auf freiwilliger Basis erfolgen solle. (Klar, halb so schlimm!)

Alle drei Argumente strotzen nur so von Unwissen über die informationstechnischen Zusammenhänge und/oder von Naivität. Vielleicht auch von gerissener Überredungstaktik.

  1. Die Daten lassen sich gar nicht anonymisieren. Das Verfahren basiert darauf, dass man einzelne, identifizierbare Smartphones verfolgt und deren Wege bzw. deren Kontakte zur Auswertung aufzeichnet. Sicher, dabei müssen keine Personennamen verwendet werden, es geht auch mit Hilfe von irgendwelchen IDs. Aber der Bezug zu den Nutzern der Smartphones bleibt bestehen, solange die Smartphones identifizierbar sind. Mit einem winzigen Eingriff, der nur wenige Minuten dauert, können jederzeit sämtliche Kennungen wieder auf persönliche Namen umgestellt werden. Anonymität ist nur vorgeschoben. – Noch etwas: Angenommen, das Covid-19-Verfolgungssystem hat gefährliche Kontakte ausgemacht, die darauf hinweisen, dass viele Menschen das Virus eingefangen haben könnten. Dann geht doch kein Weg daran vorbei, die betroffenen Personen zu benachrichtigen, zu warnen oder was auch immer. Und die Betroffenen sind keine IDs (die sind resistent), sondern Menschen. Dazu müsste auf der Stelle die Anonymität aufgehoben werden. Was soll also das Gerede von Anonymität?
  2. Wer nur ein bisschen hinter die Kulissen des Internets schaut, der weiß, dass sich Daten, die im Netz kursieren oder auf vernetzten Serversystemen gespeichert sind, nicht wirklich löschen lassen. Dazu ist das Speichersystem mit den vielfachen Redundanzen viel zu weit gefächert. Es gibt unzählige digitale HInterzimmer, in denen sich Daten unauffindbar verstecken lassen. Und Daten werden nicht schlecht, sie lassen sich vortrefflich horten und für künftige Big-data-Zeiten aufbewahren. Außerdem ist der Ertrag, den gesellschaftsrelevate Daten versprechen, viel zu groß, viel zu verlockend, als dass man eine wirkliche Löschung versprechen könnte. Gerade für zukünftige Strategien gegen eine Pandemie ist der Datenschatz aufbewahrenswert. – Es kommt noch hinzu, dass die Daten, von denen wir hier sprechen, nicht nur für die Gesundheitssysteme von Wichtigkeit sein, sondern auch für jene, die damit viel Geld verdienen. Bei der Gelegenheit sollte man sich mal wieder daran erinnern, dass alles, was mit dem Smartphone gemacht wird, brühwarm an die IT-Firmen in den USA gesandt wird. Die können die Daten links liegen lassen, sie behaupten auch, sie täten es, aber in Wirklichkeitl sind sie ganz bestimmt schlau genug, um solche fetten Datenbrocken erst mal auf Halde zu horten.
  3. Ach ja, die Freiwilligkeit. Mal ehrlich, glaubt irgendjemand ernsthaft, jemand mit nachgewiesener Corona-Infektion spaziert mit dem Smartphone durch die Gegend und lässt sich auf Schritt und Tritt kontrollieren, ob er anderen evtl. zu nahe kommt? Abgesehen davon, dass er ja sowieso zu Hause bleiben muss? Nee, es sind die Gesunden oder nicht nachweislich Infizierten, die mit Fußfesseln durch die Gegend marschieren. Ach ja, man kann ja nachträglich noch feststellen, mit wem jemand vor dem Test, also als Gesundgelaubter, Kontakt hatte. Klar, kann man, aber das geht nur, wenn jeder Gesunde lückenlos überwacht wird, so wie es teilweise in China gehandhabt wird. Ist das vielleicht sogar beabsichtigt? Ist die Corona-Krise ein willkommer Anlass, um endlich einen gehörigen Schritt weiter zu kommen, hin zu einem Überwachungsstaat?

Nein, die ganze Initiative ist ein faules Ei. Wahrscheinlich wird es nicht funktionieren, und wenn doch, dann haben wir die kuriose Situation, dass wir vielleicht Menschenleben retten, aber mit Mitteln, die dafür sorgen, dass das gerettete Leben nicht mehr lebenswert ist. Eine Wirtschaft lässt sich wieder in Gang bringen, wenn auch mit Entbehrungen (auf hohem Niveau), doch eine totale Überwachung zerstört die Seele der Gesellschaft, ohne Chance auf Wiederbelebung.

Leute, nun kapiert doch, verdammt noch mal, dass die Smartphones, wenn sie zum Corona-Tracking eingesetzt werden, nichts anderes als Fußfesseln sind. Ja, ja, es gibt Argumente für eine solche Grenzüberschreitung, aber seien wir doch nicht so naiv und gehen davon aus, dass die Maßnahme zu Ende sein wird, wenn die Krise vorbei ist. Was im Internet installiert wird, bleibt dort dauerhaft erhalten und kann jederzeit mit einem Klick wieder reanimiert werden. Es gibt ja keine Kräfte, die auf die Beendigiung der Maßnahme hinarbeiten. Bei einer Quarantäne ist das etwas ganz anderes, da sorgen schon die Betroffenen dafür, dass die Maßnahme zu Ende geht. Smartphone-Überwachung dagegen erfolgt schmerz- und entbehrungsfrei, eben smart, flutschig, gefühlsneutral.

In aller Deutlichkeit: Wenn wir – aus noch so triftigen Gründen – die Grundrechte partiell aushebeln, dann bleibt am Ende (das ist gar nicht so weit) nichts mehr davon übrig. Dann haben wir unsere Grundrechte Stück für Stück abgebaut und auf dem Abfallhaufen der Geschichte entsorgt. Gibt es einen besseren Grund für das Corona-Virus, lauthals zu jubilieren?