Ach ja, die Cookies

An und für sich wäre dieses digitale Kleingebäck nicht so bedeutungsvoll, dass ich ihm einen Beitrag widmen würde, wenn da nicht das Urteil des BGH wäre, demzufolge Cookies nur bei aktiver Zustimmung des Benutzers erlaubt sind. Grundsätzlich gut so, obwohl diese ständig aufpoppenden, um Zustimmung heischenden Banner einfach nur nerven. Und jetzt noch die Forderung, dass es keine Zustimmung in der Voreinstellung geben darf, was die Sache noch ein wenig lästiger macht.

Doch wozu überhaupt diese Cookies? Erfunden wurden sie schon in der Anfangszeit des Internets, um bei wiederholtem Anwählen einer Internetseite dem Betreiber anzudeuten: „Hallo, ich war schon mal bei dir. Komm direkt zur Sache.“ Klar, dass es fast auschließlich um den Online-Handel geht. Und da die Cookies auf dem heimischen Rechner installiert werden und vom Benutzer jederzeit gelöscht werden können, hält sich die Missbrauchsgefahr in Grenzen.

Allerdings gibt es da noch eine blöde Nebenwirkung. Im stillen Zusammenwirken mit dem Onlinehändler können Werbefirmen die Cookies auswerten und gezielte, personalisierte Werbung platzieren, auf allen möglichen Internetseiten, deren Betreiber wiederum daran verdienen. Besonderer Service? Oder Nebensächlichkeit? Ich denke, auch wenn sich der Schaden in Grenzen hält, ist es ein arger Datenmissbrauch, denn personalisierte, individuelle Werbung kann nur auf Grund von Daten erfolgen, die Bestandteil von persönlichen Profilen sind. Diese Profilierung ist alles andere als eine Bagatelle, es ist ein Verstoß gegen das grundgesetzlich zugestandene Recht auf informationelle Selbstbestimmung. So einfach, so klar, auch wenn die Politik zögert, dieses Grundrecht durchzusetzen.

Von den Auswirkungen her also keine große Sache, Im Kern jedoch ungesetzlich und verwerflich. Nein, nicht die Cookies, sondern deren missbräuchliche Verwendung. Seitdem die Verwendung von Cookies zumindest angezeigt werden muss, wundern sich wahrscheinlich viele Leute (ich auch), welche Internetseiten Cookies verwenden. Fast alle kommerziellen Seiten machen Gebrauch davon, und bei den meisten Internetpräsentationen ist nicht ersichtlich, wozu die Cookies überhaupt gut sein sollen. Werden sie von den Webseitenadministratoren automatisch einprogrammiert? Vielleicht auch das, aber ich denke, dahinter steckt eine enorme Datenindustrie, die mit den kleinen Plätzchen eine Menge anzustellen weiß – und es auch tut. Und sich nicht lumpen lässt. Natürlich unbemerkt im Hintergrund.

Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich dieses mickrige, aber nährstoffreiche Digitalgebäck thematisiere. Es ist die Haltung des Branchenverbandes Bitkom, die mich regelrecht aufschreckte. So äußert sich zum Beispiel Dr. Bernhard Rohleder, Geschäftsführer der Bitkom:

„Neben den hohen Auflagen der Datenschutz-Grundverordnung müssen die Betreiber von Webseiten jetzt zusätzliche Prozesse und Formulare für ihre Web-Angebote einführen, um Cookies auch künftig nutzen zu dürfen. Alle Cookies, die als nicht unbedingt erforderlich gelten, dürfen jetzt nur noch mit aktiver Einwilligung gesetzt werden.“

Also, Herr Dr. Rohleder, wo ist eigentlich das Problem? Natürlich nervt es sowohl die Internetnutzer (an die ich denke) als auch die Internetindustrie (an die Sie denken). Es gibt aber eine verblüffend einfache Lösung: Lasst doch alle Cookies weg, die als nicht unbedingt erforderlich gelten. Dass Sie so sehr auf das Recht auf Cookie-Nutzung pochen, lässt ein gewisses Geschmäckle aufkommen. Sollten Sie etwa …

Stinkende Fleischwirtschaft

Mit der Fleischwirtschaft ist einiges nicht in Ordnung. Nein, vieles ist nicht in Ordnung. Nein, es ist nur wenig in Ordnung. Eigentlich nichts.

Massentierhaltung, zu viel Fleischverzehr wegen skandalös niedriger Preise,   Umweltbelastung durch Wasserverbrauch, Nitratverseuchung, Methan in der Atmosphäre. Missstände in den Schlachtereien, skandalöse Tiertransporte usw., und nun hat Corona auch noch offengelegt, dass über Leiharbeitsfirmen oder Subunternehmer moderne Sklaverei betrieben wird. Kein Wunder, denn die Deutschen sind sich zu schade, um stundenlang totes Fleisch zu zersägen, um Gedärme in große Behälter zu werfen, massenweise. Fiese Arbeit, gute Gelegenheit für Rumänen oder Bulgaren, sich und ihre Familien zu ernähren, Geld zu verdienen, weniger als die Deutschen, mehr als die anderen in den Heimatländern.

Einige (auch Politiker) halten die Leiharbeit für unverzichtbar. Wie sollen die Fleischfabriken dennn sonst an die Arbeitskraft kommen? Wohlgemerkt, die Leiharbeitsfirmen vermittteln Arbeitskraft, keine Mitarbeiter. Arbeitskraft, die austauschbar ist, wie Ware gehandelt werden kann, über einen Zwischenhandel, der ebenfalls gut daran verdient. Vermietung von Menschen, mit allem Drum und Dran, so dass die eigentlichen Unternehmer die Arbeitskraft nur noch konsumieren und ansonsten aus dem Verantwortungsschneider sind. Wie gesagt, moderne Skaverei.

Ist es nicht zynisch, wenn ausgerechnet ein Virus die Misstände aufdecken muss? Sicher, die Fleischfabriken weisen darauf hin, dass sie nicht die einzigen sind, die im großen Maße von Leiharbeit profitieren. Das stimmt natürlich. Aber wo sonst gibt es vergleichbare Missstände? Einfach mal umschauen und überlegen, wo es Arbeit gibt, die man den „wertvollen“, übersättigten Deutschen nicht zumuten kann. Wobei ich allerdings davor warnen möchte, pauschal alle Erntehelfer in den Fokus zu rücken. Viele Erntehelfer, ich glaube sogar, die meisten, haben eine enge, direkte Beziehung zum landwirtschaftlichen Betrieb und sind zum Teil sogar regelrechte Spezialisten. Wie sagte ein Spargelbauer in unserer Gegend, bevor die Spargelernte einsetzte: „Es wird Zeit, dass Igor wieder kommen kann (Reisebeschränkungen wegen Corona), der weiß am besten, wie wir das in diesem Jahr hinkriegen können.“ – Mitarbeiter und keine unpersönliche Arbeitskraft, darauf kommt es an.

 

Digitalisierung – Vernetzung

Eigentlich wollte ich die Diskussion rund um den Begriff „Digitalisierung“ ad acta legen. Sicher, Scheißwort, da es überhaupt nicht den Kern der Sache trifft, aber der Begriff hat sich eingebürgert, leider, und gegen Sprachgewohnheiten gibt es kein Gegenmittel. Sie verfestigen sich durch Gebrauch, also sei’s drum.

Wenn dahinter nicht eine gefährliche Gedankenlosigkeit stecken würde. Diejenigen, die – vor allem in Politik und Medienwelt – ständig von „Digitalsierung“ oder, im gehobenen, kultivierten Manager-Speach von „digitaler Transformation“ (wow) reden, outen sich gewissermaßen als Laien oder als Marschierer ohne Zielvorstellung.

Also in Kürze, was „Digitalisierung“ wirklich bedeutet. Zunächst einmal beschreibt dieser Begriff einen Vorgang und keinen Zustand, aber das sollte wohl klar sein. Es gibt drei Vorgänge, auf die der Begriff zutrifft:

  1. Die Umwandlung von analogen Signalen bzw. Informationen in digitale. Das ist ein rein technischer Vorgang, völlig wertfrei und überhaupt nicht diskussionswürdig. Die elektronischen Module, die das bewerksstelligen, heißen AD-Wandler.
  2. Die Umstellung von technischen Abläufen auf digitale Geräte und Prozesse. Dieser gesellschaftliche Vorgang ist weitgehend abgeschlossen, denn die digitale Technik überzeugt schon seit langem durch Preiswürdigkeit und Leistungsfähigkeit und hat sich deshalb durchgesetzt. Typische Beispiele: Computer statt Schreibmaschine oder Digitalfotografie statt Analogfotografie.
  3. Die Erfassung von technischen, sozialen oder biologischen Strukturen in Form digitaler Datensätze, also die Verdatung der Welt, wenn man so will. Dieser Vorgang ist in vollem Gange und bei weitem noch nicht abgeschlossen.

Doch das, was man heute allgemein mit „Digitalisierung“ bezeichnet, ist etwas anderes. Man versteht darunter vor allem die Vernetzung, und zwar unter Verwendung des Internets, eine ganz andere Kategorie. Die drei genannten Formen der Digitalisierung lassen sich unabhängig vom Netz betreiben, und das Internet kann sehr wohl auch ohne digitale Datenanhäufungen gute Dienste leisten. Sicher, das Internet arbeitet digital; insofern beflügeln sich die Digitalisierung auf der einen Seite und die Vernetzung auf der anderen Seite ganz erheblich. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass es verschiedene Dinge sind.

Nun könnte man argumentieren, dass es ja um Begriffe geht, und dass Begriffe u.U. das Zeug haben, Dinge zu definieren. Demnach wäre Digitalisierung das, was die Leute darunter vestehen, und die Leute meinen halt das Internet. Doch diese Gleichsetzung von Digitalisierung und Vernetzung ist überaus schädlich, denn dadurch wird suggeriert, dass praktisch nichts mehr ohne das Internet geht, dass jeder Fortschritt nur unter Einbeziehung des Internets möglich ist. Die derzeitigen Entwicklungstendenzen bestätigen, dass eine solche Einstellung tatsächlich vorhanden ist und die Vorstellungen von Innovationen und Zukunftsgestaltung fast ausschließlich vom Internet bestimmt werden.

Dabei könnten beide Vorgänge, nämlich einerseits die Verdatung der Gesellschaft, andererseits ihre Vernetzung, wesentlich wirkungsvoller (und ungefährlicher) vonstatten gehen, wenn man sie nicht auf so plumpe Weise gleichsetzen würde. Nehmen wir als Beispiel nur das SmartHome. Abgesehen davon, dass der Nutzen des technisch hochgerüsteten Haushalts ohnehin sehr begrenzt ist, gibt es keinen (absolut keinen) überzeugenden Grund, den digitalisierten Haushalt auch noch ins Internet zu stellen. Selbst die Warnung des in der Ferne weilenden Wohnungsinhabers im Falle einer Störung (Brand, Einbruch usw.) muss nicht über eine ständige, „smarte“ Verbindung erfolgen. Es wäre kein Problem, in solchen Fällen, und nur dann,  z.B. eine automatische SMS abzusetzen. Die Daten blieben dort, wo sie hingehören: in der Wohnung.

Oder nehmen wir die Gesundheitskarte. Die Verantwortlichen denken automatisch ans Internet, wenn es um den so wichtigen Austausch von Gesundheitsdaten geht. Muss man dazu das verseuchte, anfällige Internet als Infrastruktur bemühen? Mit etwas Kreativität ließen sich sichere und dezentrale Lösungen bewerkstelligen, z.B. indem alle Daten auf der Karte gespeichert sind und dort verbleiben. Backup-Lösungen ließen sich ebenfalls bewerkstelligen. Wie gesagt, dazu braucht man nur etwas Kreativität und Phantasie. Es ist der unreflektierte Griff in die Internetkiste, der den Gedanken an bessere, alternative Lösungen schon im Ansatz unterdrückt.

Und umgekehrt: das Internet kann äußerst Wertvolles auch dort leisten, wo es nicht um Berge von Datensätzen geht. Gehen wir einfach mal zurück in die Anfangszeit des Netzes, wo es vorwiegend um Informationen und herunterladbare Ressourcen ging. Da brauchte man noch keine Angst vor dem Datenmissbrauch zu haben, und die Hackerszene war beherrschbar, weil die Zerstörungen keine lebenswichtigen Strukturen betrafen. Wo aber „Big Data“ die Herrschaft über das Netz ergreift, kommt es zwangsläufig zu Gefahrensituationen, weil das Netz gar nicht imstande ist, diese Daten mit der gebotenen Sicherheit zu transportieren und zu lagern. Die gigantischen Datenmengen sind Munition für einen Cyber War, der die Dimension eines weiteren Weltkrieges annehmen könnte. Brisante Daten gehören ganz einfach nichts ins Internet.

Halten wir fest: Es steht außer Frage, dass das Gespann Digitalisierung und Vernetzung Hervorragendes leisten kann. Ebenso steht fest, dass es enorme Schäden verursachen kann, vor allem, wenn Big Data im Netz wütet und die amerikanischen IT-Banden mit ihren rein kommerziellen Interessen das Geschehen kontrollieren. Wieviel Potential steckt doch im Netz, solange es nicht mit Datensätzen geflutet wird, sondern vor allem als Anbieter von Informationen, Wissen, medialen Ressourcen fungiert. Und wievel Potential hat das datenmäßige Wissen rund um die Vorgänge in der Gesellschaft, wenn es verantwortungsvoll gehandhabt wird und nicht im unkontrollierbaren Dschungel des Netzes verstreut und weltweit verteilt wird. Nur wenn man die Leistungen der beiden verschiedenen Vorgänge nicht grundsätzlich in einen Topf wirft, wird man imstande sein, beides mit größtmöglichem Nutzen zu kultivieren. Die automatische Gleichsetzung von Internet und Datenerfassung unter dem Schlagwort „Digitalisierung“ ist fatal; der inflationäre Gebrauch des Wortes „Digitalisierung“ ist ebenso bezeichnend wie peinlich.

 

Bewegende Fotos

In meinen Bücherregalen stehen mehrere Fotobücher: Sachbücher über Fototechnik, aber auch Bildbände von bedeutenden Fotografen. Immer wieder faszinieren mich die Bilder aus der SW-Zeit, bei weitem nicht so technisch perfekt wie die Produkte der Digitalfotografie, und doch vielfach Meisterwerke. Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Gordon Parks, Chris Killip, das sind einige der Fotografen, deren Bilder mich immer wieder aufs neue ansprechen. Und natürlich darf Sebastiao Salgado in dieser Reihe nicht fehlen. Salgado, der viel menschliches Leid dokumentierte, daran fast zerbrach und sich selbst schließlich wiederfand, indem er die Welt in ihrer ursprünglichsten und natürlichsten Form fotografierte, an Stellen, die noch weitgehend von Technik und einer von Technik beherrschten Wirtschaft verschont geblieben sind. Sein Werk „Genesis“ fehlt natürlich nicht in meiner Büchersammlung.

Gelegentlich blättere ich auch in einem Bildband mit World-Press-Fotos von 1955 bis 1995. Es sind Bilder, die sicherlich nicht alle gleichermaßen ansprechen, doch gerade in den Unterschieden bezüglich Bildaussage und Motivwahl zeigt sich die Vielfältigkeit der menschlichen Gesellschaft, auch die verschiedenen Formen der Probleme, Glücksmomente und – Gräuel. Wer kennt nicht das Foto von dem schreienden, kleinen Mädchen, das im Vietnamkrieg vor den Napalmbomben flieht und sich dabei die brennenden Kleider vom Leib gerissen hat? Oder das Foto, das in bedrückender Authentizität die Erschießung eines Vietkong-Verdächtigen gerade in dem Moment zeigt, in welchem der Abzug des Revolvers betätigt wird. Überhaupt war der Vietnam-Krieg wiederholt der Schauplatz. Aber auch Bilder aus Afrika, von verhungernden Kindern, von Frauen, die ihren Säuglingen verzweifelt nur ihre zu Hautlappen erschlafften, leeren Brüste bieten können. Viele Bilder, die aufwühlen – sofern man überhaupt bereit ist, sich auf die Fotos einzulassen.

Ich weiß nicht, gibt es die World-Press-Fotografie überhaupt noch? Macht diese fotografische Verdichtung in Zeiten, wo die Welt in Bildern und Videos förmlich ertrinkt, überhaupt noch Sinn? Gibt es eigentlich noch so etwas wie eine authentische, dokumentarische Fotografie, heute, wo Fotos mit Photoshop und Co. beliebig gestaltet, verfälscht, zusammengebastelt werden können? Oder sind Fotos nur ein Teil des Grundrauschens in einer hypermedialen Scheinwelt? Und wenn die Fotografie nicht mehr dazu beitragen kann, auf Probleme aufmerksam zu machen, den Menschen das vor Augen zu führen, was sie entweder nicht sehen können (oder wollen), was tritt an die Stelle der Dokumentarfotografie? Oder entsteht hier eine Loch, das schnell mit Halbwahrheiten und Lügen vollläuft?

Wie dem auch sei, es gibt eine gute Übung, die digitale Oberflächlichkeit zu überwinden. Vorschlag: Einfach mal Fotos, die nach persönlicher Auffassung einen hohen dokumentarischen Gehalt haben, sammeln und ggfs. mit Freunden drüber diskutieren. Ich kann an dieser Stelle gleich den Anfang machen und nominiere zwei Bilder für das private World-Press. Leider kann ich die Fotos hier nicht vorstellen, weil das Urhebergesetz die Veröffentlichung aller Fotos verbietet, die man nicht selber gemacht hat. Aber die beiden Bilder lassen sich gut beschreiben.

Das eine Bild zeigt einen Ausschnitt aus der Militärparade in Peking 2019. Ein großer Block marschierender Soldaten. Die Kamera erfasst die Szene schräg von oben, so dass die Reihen diagonal erscheinen. Es wird nur ein Ausschnitt der Marschgruppe gezeigt, an keiner Stelle ist einer der vier Ränder zu sehen, und doch zähle ich 81 Soldaten; die gesamte Kolonne umfasst ein Mehrfaches. Eine derartige Perfektion hatte ich vorher nicht für möglich gehalten. Es ist mehr als hundertprozentiger Gleichschritt. Alle schauen exakt in die gleiche Richtung, alle halten das Gewehr im selben Winkel, alle haben dieselbe Handhaltung, dieselbe Kopfhaltung. Es ist überhaupt kein Unterschied zwischen den Soldaten zu erkennen, selbst die Gesichter scheinen gleich zu sein. Natürlich ist auch die Ausrichtung einwandfrei, ich hab mal ein Lineal angelegt – keine Abweichung.

Auch das andere Bild zeigt eine chinesische Personengruppe. Diesmal ist es eine studentische Gruppe, vielleicht auch eine Schülergruppe der Oberstufe. Blick in den Unterrichtsraum. Alle sind gleich angezogen (Schuluniform?), aber so, dass wirklich kein individuelles Merkmal zu erkennen ist. Jeder sitzt an seinem Tisch, schaut nach vorne, hat beide Hände auf den Tisch gelegt. Die Körperhaltung ist nicht straff-disziplinarisch wie im ersten Bild, sondern eher locker und lässig. Aber alle Personen zeigen dieselbe Form von Lässigkeit, keiner hat zum Beispiel die Beine übereinandergeschlagen oder sitzt etwas schräg auf dem Stuhl. Und: Alle sind maskiert, tragen also den Corona-Mundschutz. Auch diese Masken sind natürlich alle gleich, bedecken bei allen Personen denselben Teil der Nase.

Beide Bilder wurden von chinesischen Staatsmedien verbreitet. Im ersten Fall soll militärische Macht gezeigt werden, im zweiten Bild geht es darum, der Welt zu präsentieren, wie souverän China mit der Corona-Pandemie umgeht. Ich denke, die Chinesen zeigen solche Bilder mit einem gewissen nationalen Stolz.

Aber ich bin kein Chinese, und ich empfinde eine kaum noch zu unterdrückende Abscheu, wenn ich solche Bilder sehe. Sie dokumentieren etwas ganz Schlimmes und sind deshalb geeignete Kandidaten für eine World-Press-Nominierung. Lassen wir mal die Perfektion beiseite und überlegen, was dahinter steckt. Menschenmassen, die mit äußerster Präzision funktionieren, wie präzise gefertigte Zahnräder in einem riesigen Getriebe. Menschen, die im Gleichschritt agieren, sowohl in der militärischen Marschkolonne als auch in Schule und Universität. Menschen, die nicht aufmucken, weil sie auch gedanklich dem staatlichen Kurs folgen. Menschen ohne individuelle Prägung, also ohne Charakter. Freiheit (z.B. im wirtschaftlichen Bereich) gibt es nur in exakt zugewiesenen Freiräumen, so wie Wildtieren in großzügig bemessenen Freigehegen. Und auch hier: Kontrolle. Abweichler, die es natürlich auch in China gibt, haben keine Chance.

Nun sind die Bestrebungen, Menschenmassen zu kontrollieren und entsprechend den staatlichen Zielen zu steuern, zwar in China besonders extrem ausgeprägt, aber es gab und gibt sie auch anderswo. Hitler und Göbbels waren Meister im Beherrschen von Menschenmassen, und sie kannten auch die Werkzeuge, um die Ziele zu erreichen: „Gleichschaltung“ von Medien und Justiz, Propaganda, Verdrehung von Tatsachen (heute sprechen wir von „Fake-News“). Müssen noch weitere Beispiele aus der Jetztzeit folgen? Ich denke nicht, nur einige Länder, in denen Wählermehrheiten zweifelhafte Führungspersonen zur Macht verhelfen: Türkei, Ungarn, Brasilien, USA, Polen, Russland (mit Abstrichen) …

Die schlimmste Methode zur Gleichschaltung von Massen ist zweifellos die Indoktrination von Bürgern, um ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihr Wollen zu programmieren. Hierin hat China bereits Trdadition, denken wir an die Gehirnwäsche unter Mao Tse Tung. Damals wurden Querdenker eingesperrt und mit Gewalt willenlos gemacht. Heute hat man sanftere und umso wirkungsvollere Methoden, nämlich die der digitalen Kontrolle. Man muss einen Abweichler heute nicht mehr einsperren, es reicht, ihn digital einzufangen und ihn sanft, smart und dennoch massiv zu bearbeiten, bis er erkennt, wie glücklich doch das Leben ist, wenn man den Weisungen des großen Führers Xi Jinping folgt.

Das alles könnte man ja dahingehend abtun, indem man diese Entwicklung auf China begrenzt und den freien Ländern soviel Widerstandskraft zutraut, dass sie die Gefahren noch rechtzeiig abwenden können. Das setzt aber voraus, dass die Gefahren erkannt werden, und da scheint es gehörig zu hapern. Eine blinde Digitalgläubigkeit, die sich weltweit breit macht, zeigt nur, dass die Leute die drohende Zerstörung der demokratischen Strukturen, die fast ausschließlich vom Netz ausgeht, überhaupt nicht wahrnehmen. Deshalb sind die beschriebenen Bilder nach meiner Auffassung so extrem bedeutungsvoll. World-Press-Fotos in der digital gesteuerten Welt.

 

Grenzwertig

Solange das Corona-Virus im höchsten Maße aktiv war, solange waren die Menschen damit beschäftigt, zu überleben oder irgendwie mit den erforderlichen Einschränkungen zurechtzukommen. Nun, da es den Anschein hat, dass wir das Virus im Griff haben, treten andere Fragen in den Vordergrund, vor allem die Frage nach dem Ursprung des Virus. Genau genommen geht es um die Suche nach dem Schuldigen, denn die Menschen können nur schwer ein Leid ertragen, ohne dafür einen Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Nun ist klar, dass das Virus erstmalig in China auftauchte, aber das kann ja auch zufällig geschehen sein, zum Beispiel durch Übertragung von einem Wildtier auf den Menschen. Diese Version ist die von chinesischer Seite offiziell verbreitete Erklärung. Und da es schon mal einen ähnlichen Fall gab, nämlich die SARS-Pandemie 2003, die ebenfalls von China ausging, ist die Welt geneigt, den Chinesen die Erklärung abzukaufen.

Nun gibt es eine zweite Erklärung, die davon ausgeht, dass das Virus aus dem Viren-Forschungslabor in Wuhan ausgebüxt ist. Diese Erklärung hat den Vorteil, dass sie einen Schuldigen liefert, nämlich China, das in seinem Eifer nach weltweit anerkannten Forschungsergebnissen offenbar einen Fehler gemacht hat. Klar, das ist eine Erklärung, die besonders dem Politrabauken Trump gefällt. Indem aber dieser verlogene, unfähige US-Präsident so vehement auf dieser These herumreitet, wird sie gleichzeitig unglaubwürdig und von vielen gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Die amerikanischen Geheimdienste haben die Parallele zu 2003 im Blick und bevorzugen deshalb die Wildtier-Theorie.

Doch die Leute wollen eine Erklärung, die einen Schuldigen liefert, und so beginnt die Stunde der Verschwörungstheoretiker zu schlagen. Wenn die Fakten keinen Schuldigen hergeben, dann wird einer gemacht. Und dann ist da noch das Internet, das derartige Verschwörungstheorien explosionsartig übers Land verbreitet und Menschen anspricht, die leicht von dem größten Unfug zu überzeugen sind, denn in einer digitalisierten Welt geht das Urteilungsvermögen und somit das Gespür für das faktisch Richtige schnell verloren.

Doch unabhängig von den Verschwörungstheorien ist die Frage nach den Ursachen und etwaigen Verursachern durchaus berechtigt. Zu groß sind die vom Virus angerichteten Schäden, als dass man demütig die Hände falten und von einem Schicksalsschlag sprechen könnte. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, das eine der beiden Theorien (Wildtier-Übertragung – Unfall im Virenzentrum) zutrifft. Eine sichere Antwort wird die Welt wohl nie erhalten; keine der beiden Möglichkeiten kann ausgeschlossen werden, und keine der Möglichkeiten wird vermutlich jemals zu beweisen sein.

Man kann nur mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen an die Sache herangehen, was mit Verschwörungstheorien natürlich nichts zu tun hat. Und da gibt es ein klares Ergebnis: Außer der Tatsache, dass es schon einmal eine Übertragung von einem Wildtier auf den Menschen gegeben hat, sprechen  alle Sachverhalte für einen Unfall im Virenzentrum. Ja, selbst die Parallelität zu 2003 muss relativiert werden, denn auch das SARS-Virus verbreitete sich von China aus, und schon damals waren die Chinesen groß im Vertuschen eigener Fehler. Die Tatsache, dass zu Beginn der derzeitigen Corona-Krise die chinesische Führung um Geheimhaltung der Krankheitsfälle in Wuhan bemüht war, ja sogar einen Fachmann bestrafte, der auf die drohende Gefahr aufmerksam machte, ist ein schwerwiegendes Indiz dafür, dass das Virus dem Forschungszentrum entsprang. Außerdem ist es kein Geheimnis mehr, dass die Chinesen in Forschung und Technik an die Weltspitze streben, koste es was es wolle.

Aber dieses Herumwühlen in Grenzbereichen von Wissenschaft und Technik ist nicht nur in China zu beobachten, sondern ein Phänomen der gesamten technisch hochgerüsteten Welt, begleitet von einem ausgeprägten, allgemeinen Technik-Optimismus und einer verblüffenden Arroganz derjenigen, die glauben, das alles im Griff zu haben und deshalb alle Grenzen sprengen zu können. Albert Einstein hat mal geäußert:

„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“

Es ist mir entfallen, ob es ebenfalls Einstein war oder ein anderer großer Physiker, der einmal darauf hinwies, das mit jeder beantworteten Frage ein Bündel neuer, wesentlich komplizierterer Fragen auftauchte. Wie gesagt, Grenzbereiche der Wissenschaft und Technik. Die Erforschung von so gefährlichen und kaum fassbaren Dingen wie Viren gehört in diesen Grenzbereich, wo Erkenntnisse große Vorteile bringen können, wo aber auch kleine Fehler verheerende, letzten Endes sogar unseren Planeten bedrohende Auswirkungen haben können.

Es gibt eine Reihe von Zonen, in denen sich die Menschheit hart am Abgrund bewegt. Die Gen-Technik gehört dazu, oder die digitalisierte Waffentechnik, oder die Nukleartechnik, oder die „künstliche Intelligenz“. Alle haben das Potenzial, unseren Planeten in eine menschenfreie Zone zu verwandeln. Ja, die eigentliche Schuld an der derzeitigen Pandemie hat wahrscheinlich die menschliche Arroganz, die Überschätzung unserer Möglichkeiten. Wenn man einigen Zukunftsforschern zuhört, dann kann einem angesichts der Warnungen von wirklich kompetenten Forschern nur die Gänsehaut über den Rücken laufen. Und wenn diese Warner dann noch hochnäsig in die Ecke geschoben werden (so geschehen mit Stephen Hawking), dann kann man sich nur die Nase zuhalten, denn es gibt eine moderne Form von technisch ausgerichteter Arroganz, die gehörig stinkt.

Niederlage – Befreiung – Erinnerung …

… das sind die Kernbegriffe, die Jahr für Jahr am 8. Mai, also dem Jahrestag der deutschen Kapitulation, die Ansprachen und Reden beherrschen. So auch in diesem Jahr, als der Bundespräsident vor dem Ehrenmal einige wichtige Sätze zu den Ereignissen vor 75 Jahren sagte. Keine Frage, es war nach meiner Auffassung eine gute Rede, und er hat einiges auf den Punkt gebracht. Natürlich kamen auch in dieser Rede die drei genannten Kernbegriffe vor. So wichtig diese Begriffe für die geschichtliche Einordnung sind, so begrüßenswert ist es ferner, mit klaren Formulierungen klare Standpunkte abzustecken. – Ich habe trotz allem einige Vorbehalte.

Niederlage. Eine Niederlage bedeutet immer auch den Verlust von irgendetwas, das Abtreten von irgendwelchen Werten an einen Besseren. Am 8. Mai 1945 wurde das Böse überwunden, wo ist da also die Niederlage? Wer die Kapitulation als Niederlage bezeichnet, identifiziert sich doch mit dem Bösen, ist also selbst böse, oder? Ach ja, einige Zeitgenossen meinen damit nur die Wehrmacht. Sicher, es gab in der Wehrmacht eine Reihe von aufrichtigen, mutigen Soldaten, aber die Wehrmacht als Ganzes war Bestandteil des Bösen. Und große Teile der Wehrmacht beteiligten sich an den verbrecherischen Aktionen, zum Beispiel im Rahmen von Massenerschießungen und Massakern. Nicht zuletzt ist der Fahneneid, auf den sich viele Wehrmachtsangehörige beriefen, äußerst zweifelhaft, da er ohne moralische Abwägung einem Verbrecher gegenüber geleistet wurde. Das Verbrechen war schon im Vorfeld erkennbar!

Befreiung. Hierbei beziehen sich viele Zeitgenossen (weltweit) auf die Rede Richard von Weizsäckers 1985, als er die Kapitulation als Befreiung bezeichnete. Keine Frage, die Welt wurde von den Nazis befreit, und auch die Deutschen wurden von einem Übel, nämlich dem Nationalsozialismus befreit. Absolut in Ordnung, da von Befreiung zu reden. Und doch drängt sich mir eine Frage auf: Ist Befreiung nicht die Beendigung eines Zustandes, der als unfrei, beengt oder qualvoll empfunden wird? Sicher traf das auf eine große Zahl von Deutschen zu, aber stand nicht der größere Teil der Deutschen hinter Hitler und seiner Ideologie? Hat nicht das deutsche Volk dieser Bande von Dreckskerlen zur Macht verholfen? Haben nicht deutsche Bürger frenetisch gejubelt, als Göbbels in der Endphase des Nationalsozialismus den „totalen Krieg“ herausbrüllte? Befreiung? Ja, ja, für viele Deutsche, aber ein gefährlicher Begriff, wenn man damit das Wesentliche erklären will.

Erinnerung. Erinnerung ist gut, Erinnerung ist wichtig, ja notwendig. Die Erinnerung darf nie nachlassen. Wir brauchen alle Formen der Erinnerung, angefangen von Erinnerungsstätten über einen lebendigen Geschichtsunterricht in den Schulen bis hin zu eindringlichen Dokumentationen in den Medien. Holocaust-Überlebende haben wiederholt angemahnt, die Erinnerung an die Gräuel wachzuhalten. Dennoch möchte ich eine Anmerkung zur Erinnerungskultur machen: Es besteht die Gefahr, dass wir es bei der Erinnerung belassen, wenn wir sie zu stark in den Vordergrund rücken. Jährliche Gedenkfeiern, jährliche Ermahnungen, jährliches Entschuldigen und wohltuendes Verzeihen, regelmäßiges Äußern von Mitgefühl mit den Opfern – all das ist wichtig, aber zu wenig. Wir müssen vor allem die Geschichte aufarbeiten, und zwar aus der Sicht der Täter. Und wir dürfen uns nie zurücklehnen und die Aufarbeitung als beendet erklären. Das ist sie nämlich nicht, und das wird sie nie sein. Nie.

Wenn die Naziverbrechen wirklich aufgearbeitet worden wären, dann hätten wir nicht die erneuten Probleme mit Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Zumindest wüssten wir, wie wir diesen Problemen wirksam begegnen könnten. Eine wirkliche Aufarbeitung verlangt, dass wir die Ursachen für derartige Verbrechen nicht nur in den Geschichtsbüchern aufstöbern, sondern vor allem in der aktuellen Tätergesellschaft wahrnehmen und bekämpfen. Mit „aktueller Tätergesellschaft“ meine ich alle Gesellschaften der Welt, denn die „guten“ Nichtdeutschen dürfen sich nicht damit herausreden, sie hätten ja keinen Anteil an den Verbrechen gehabt. Aufarbeitung verlangt, dass sich jedes Land gegen Strömungen absichert, die zu ähnlichen Verbrechen führen können wie in Deutschland 1933-1945.

Anfälligkeit gegen Propaganda, Anfälligkeit gegen populistische Maßnahmen, Mechanismen zur Meinungsbeeinflussung von Massen, Angst vor dem Fremden, triebhafe Suche nach Verantwortlichen für jedes Missgeschick, grobe Ungerechtigkeiten, extreme soziale Ungleichgewichte, Entstehung von Herdentrieben usw., das sind nur einige der Aspekte, um die es bei der Aufarbeitung geht. Und wenn wir uns in den verschiedenen Ländern (auch in Deutschland) umsehen, dann merken wir, dass selbst die als sicher erscheinenden, demokratischen Gesellschaften in hohem Maße gefährdet sind. Nie wieder? Sicher, so soll es sein. Doch wenn wir uns nur erinnern und uns in trügerischer Sicherheit wägen, dann wird es wieder passieren. Nein, nicht so schlimm wie in der Nazizeit, aber schlimm genug, um den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Beschleunigung der negativen Vorgänge durch die Digitalisierung wird zur Folge haben, dass die Zeit für Gegenmaßnahmen knapp wird, verdammt knapp.

 

 

Und nach Corona?

Ich muss auf dem Rückweg vom Arzt noch schnell eine Tüte Milch im Supermarkt kaufen. Also Maske auf und rein ins Geschäft. Zunächst sehe ich gar nichts, denn nach der frischen Luft draußen beschlägt meine Brille hoffnungslos. Ich nehme sie ab (die Brille natürlich) und erkenne nun die Mitarbeiterin des Ladens, die mir gestikulierend klar macht, dass ich ja einen Einkaufswagen mit mir führen müsse. Stand ja dick im Eingangsbereich geschrieben, aber wenn man blind ist … Also wieder nach draußen, und nach beim erneuten Betreten des Ladens kann ich nun auch durch die Brille schauen. Dafür blase ich mir den Atem direkt in die Nase, und dabei wird mir klar, was wir den Mitmenschen zumuten, wenn wir ihnen zu nahe kommen.

Egal, irgendwann wird es ja wohl zu Ende sein mit der Maskenpflicht. Ehrlich, ich kann es kaum noch erwarten, dass sich die Straßen wieder mit Menschen füllen und nicht von maskierten, gesichtslosen Menschenmassen geflutet werden, wie man es von asiatischen Ländern kennt. Doch ein dummes Gefühl bleibt: Es gibt Leute, die das Tragen solcher Atemfilter auch für die Nachcoronazeit empfehlen, wegen des Grippe-Virus und so. Hygiene und Desinfektion als permanente Gesellschaftsausgabe. Mein Gott, warum nicht gleich den Brutkasen für jeden?

Überhaupt stellt sich die Frage, ob nach Corona wieder alles so werden soll wie vorher. Ich denke, manches muss schnell wieder hergestellt werden, z.B. die direkten Kontakte in Schulen [1] und Betrieben. Oder die Rückkehr zum anonymen Bargeld. Oder die Bevorzugung des örtlichen Geschäftes gegenüber dem Onlinehandel. All diese Dinge bildeten wichtige Stützen der Gesellschaft und wirkten sich positiv auf den Zusammenhalt der Menschen untereinander aus. Was die unmittelbaren, zwischenmenschlichen Kontakte betrifft, so sollte die Corona-Krise als Hinweis aufgefasst werden, dass es schon vorher nicht zum besten damit stand, und dass eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte dringend erforderlich ist. Also eine Steigerung der unmittelbaren, persönlichen Kontakte. Die Hassbotschaften in den digitalen Kanälen sind überaus aufschlussreich.

Andere Dinge dürfen nicht mehr so wie vorher sein. So zum Beispiel die Globalisierung, die in allen Bereichen, wo sie unwichtig oder gar schädlich ist, hervorragend funktioniert, in dem einen wirklich notwendigen Anliegen, nämlich der gemeinsamen Verantwortung für den Planteten, praktisch nicht stattfindet. Oder nehmen wir den Verkehr. Die Menschheit muss ganz einfach der Tatsache ins Auge sehen, dass die Verkehrsverhältnisse unseren Planeten hoffnungslos überlastet haben. Ein paar Wochen Corona, und schwupp geht die Kohlendioxidbelastung spürbar (!) zurück. Das Zeitalter des Autos muss endgültig vorbei sein, und die Verantwortlichen in Wissenschaft und Politik täten gut daran, nun zukunftsfähige Konzepte für eine gemäßigte und doch (oder gerade deshalb?) bereichernde Mobilität zu entwickeln. In die herkömmlichen Autos einen Elektromotor mit schwerer Batterie oder gar eine Software zum autonomen Fahren zu packen, ist einfach nur kurzsichtig.

Das sind nur wenige Beispiele. Doch wird sich wirklich etwas dauerhaft verbessern? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, und zwar weil die gesellschaftlichen Bedingungen der Vorcoronazeit zu viele Profiteure mit Einfluss hervorgebracht haben. Die werden sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Wie sagte der Chef der Lufthansa? Staatliche Hilfen, ja, aber bitte keine staatlichen Einfluss. Und was fordern  die Manager in der Autoindustrie? Kaufprämien, die von der gesamten Gesellschaft (!) aufgebracht werden müssen, ja, die könnten helfen, aber bitte keine Abstriche bei den Bonus-Zahlungen, und bitte nicht die Aktionäre verärgern.

Tja, so lief es vor Corona, und so wird es nach Corona wieder laufen. Und die Welt wird weiterhin mit den vielen Kaputtmachern an der Spitze der Regierungen zurecht kommen müssen Ich will jetzt keine Namen nennen, aber einige Staaten: China, Russland, Brasilien, USA, Türkei, Ungarn, Venezuela, Philippinen, Sudan, Iran, Nordkorea, Polen, Großbritannien (ja, auch), Weißrussland, Katar, Saudi-Arabien, und … und … und …

Keine Frage, Corona hat der Menscheit eine Lupe vor die Augen gehalten, aber ich bin sicher, dass man das alles sehr schnell wieder vergessen wird. Oder einfach beiseite schieben wird, wegen der Eigeninteressen. Damit zum Beispiel Deutschland ein Land bleibt, in dem wir gut und gerne leben (Originalton Merkel).

[1] In aller Deutlichkeit: Das Lernen ohne Bezugspersonen, ohne die Schülergemeinschaft, ohne Wettbewerb und gegenseitige Hilfe hat nichts mit Bildung und Schulleben zu tun. „HomeSchooling“ bezeichnet exakt das, was es in Wirklichkeit nicht ist. Es ist ein lächerlicher und letzten Endes fast wirkungsloser Ersatz, und wenn wir die Corona-Krise ernst nehmen, dann sollten wir uns zur Erkenntnis durchringen, dass Digitalisierung im Schulbetrieb nicht mehr sein kann (mehr sein darf) als die Modernisierung der technischen Hilfsmittel. Es kann doch nicht sein, dass das Bildungswesen in die Zeit der Kybernetik und der damit verbundenen Objektivierung des Lernens zurückfällt.

Sicher, in Notzeiten wie der jetzigen kann das Lernen zu Hause ein wenig die Defizite mildern, zumindest bei älteren Schülern, aber ein Konzept für die Zukunft kann und darf es nicht sein.

Jetzt weiß ich’s

Sicherheit, Energieeffizienz, Komfort – das sind die Argumente, mit denen die Leute überzeugt werden, dass an einem SmartHome auf die Dauer kein Weg vorbei geht. Vor allem Komfort zieht als Argument, denn die üblichen, unbequemen Herausforderungen des Alltags werden allgemein als lästig und unangenehm empfunden. Muss ja nicht sein, weiß man nun, auf den Höhen der Digitalisierungswelle surfend.

Bis jetzt war ich ein entschiedener Kritiker des smarten Zuhauses. Ich habe ganz einfach die kontreten Hinweise vermisst, was durch die Digitalisierung nun spürbar besser werden soll. Das SmartHome habe ich irgendwo zwischen überflüssig bis schädlich eingeordnet. Nun wurde ich eines besseren belehrt, und ich kann die Zeitgenossen, die sich um eine bessere (= digitalere) Welt bemühen, nur demütigst um Verzeihung bitten. Man braucht ab und zu halt ein Zeichen der Bekehrung, so etwas wie ein Fanal, das einem den richtigen Weg weist.

Dabei muss es ja nicht gleich der brennende Dornbusch sein, der weiland dem Mose die Richtung wies. Es reicht, wie in meinem Fall, ein kleines Helferlein, quasi ein Accessoire des smarten Zuhause. Ich spreche von dem digitalen Einkaufszettel, bei dem die einzukaufenden Dinge im Smartphone eingetragen werden. Nun kann man dieses Anliegen nach steinzeitlicher Methode auch mit einem Stück Papier erfüllen. Aber, jetzt kommt es: In der App kann man die bereits im Einkaufswagen befindlichen Dinge als erledigt kennzeichnen, quasi digital durchstreichen. Sicher, das Durchstreichen oder Abhaken geht auch beim Zettel aus Papier, wenn man sich schon nicht merken kann, was man alles in den Wagen gepackt hat. Aber, und das ist das Entscheidende, dazu bräuchte man einen Stift. Den muss man nicht nur bei sich haben, sondern man muss ihn erst mal hervorholen, und dann muss man mühsam nachgucken, mit welcher Seite das Ding schreibt – vorausgesetzt, der Kuli ist nicht ausgetrocknet.

All diese Unwägbarkeiten und Mühen entfallen beim Smartphone. Man muss beim digitalen Einkaufszettel nicht mal in die Tasche greifen, um nach Zettel und Stift zu suchen, denn das Smartphone hat der moderne Mensch immer in der Hand, bis auf die sechs oder sieben Stunden des nächtlichen Schlafes, wo das Mobile griffbereit auf dem Nachttischchen oder unter dem Kopfkissen liegt. Ja, die moderne und bequeme  Art der Lebensführung berücksichtigt natürlich, dass Mensch und Phone eine unzertrennbare Einheit bilden. Die beiden sind förmlich aneinandergekettet, so eng, dass man nun sogar in Erwägung ziehen kann, die Infektionsketten des Corona-Virus damit zu verfolgen. Indem man Smartphones beobachtet, hat man die Menschen unter Beobachtung.

In dem Verhältnis Mensch-Smartphone hat sich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. Zu Beginn war es so, dass der Mensch das Phone an der engen Leine führte. Indem er das Teil aber immer weniger aus der Hand legte, hat sich einiges verschoben. Inwischen führt nämlich das smarte Phone den Benutzer an der Leine. Den Benutzer, der als Datensatz fungiert und treu und brav das macht, was das Phone ihm aufträgt.

Und genau in dieser veränderten Beziehung zwischen Mensch und Technik (pardon: zwischen Technik und Mensch) liegt ja der eigenliche Gewinn, den der digitale Einkaufszettel bietet. Das smarte Teil lernt ja dank künstlicher Intelligenz, was der folgsame Mensch immer so einkauft und kann Frauchen oder Herrchen irgendwann von der Qual des Nachdenkens über die einzukaufenden Dinge befreien. Es beginnt mit Empfehlungen, die natürlich grötenteils aufgegriffen werden. Wie gesagt, Denken kann lästig sein. Und so wird langsam der Boden für eine intelligente, automatisierte Versorgung der Leute bereitet. Alles natürlich bis ins Detail optimiert. Einfach nur herrlich, diese Zukunftsaussichten.

Fragt sich allerdings, wie ich in Zukunft mit meinem Smartphone umgehen soll.  Zur Zeit benutze ich es nur in Notfällen oder wenn es um Dinge geht, für die es keine unsmarten Alternativen geht. Ich schleppe es nur äußerst selten mit mir herum. Aber nun, nach meiner Bekehrung, muss es doch einen bedeutenderen Platz in meinem Leben einnehmen. Was also tun? Ich weiß es: ich werde das Ding in einer Panzerglasvitrine einschließen, davor zwei Kerzen aufstellen – und eine Kniebank. Dann kann ich dem smarten Wunderteil die gebührende Ehrfurcht erweisen. Eine passende Litanei wird sich von selbst entwickeln:

  • Du Helfer in allen Lebenslagen – wir bitten dich, steh uns bei.
  • Du Retter aus der Coronakrise – wir bitten dich, steh uns bei.
  • Du Wegweiser in eine papierlose Zukunft – wir bitten dich, steh uns bei.
  • Du Gesprächspartner von morgens bis abends – wir bitten dich, steh uns bei.