Kalte Perfektion

Vor einigen Wochen entschlossen wir uns, den guten, alten JVC-Analog-Fernseher durch einen modernen zu ersetzen. Er äußerte nämlich einige Mucken, vor allem ließ er sich manchmal nur mit Tricks überreden, aktiv zu werden. Der Neue ist ein Sony von etwa gleicher Göße (70 x 40 cm), wobei der allerdings fast die doppelte Bildschirmfläche aufweist, wegen des schmalen Rahmens. Und natürlich hat der neue mit fast 2000 Pixeln in der Breite eine beeindruckende Auflösung. Man kann sogar einzelne Haare der Moderatorin erkennen. Selbst die Farben sind perfekt, na ja, nahezu jedenfalls. Nur der Ton ist schlichtweg Scheiße, ein zu einem dröhnenden Geröhre verschmolzenes Akustikgemisch, aus dem sich auch mit Hilfe des (bei Sony-Geräten ohnehin kaum wirksamen Equalizers) kein verständliches Sprachsignal herausfiltern lässt. Aber da wir Kopfhörer verwenden, ist das zweitrangig.

Nun geschah vor einigen Tagen folgendes: ich wollte zwischendurch mal auf ARD umschalten, wo das Spiel Bayern gegen Werder übertragen wurde. Mich interessierte nur der Spielstand, denn 90 Minuten lang zusehen, wie Bayern München einen weiteren Club in die Knie zwingt, dass wollte ich mir nicht antun. Aber ich weiche ab. Also, ich drückte die 1 auf der Fernbedienung, und statt eines grünen Rasens wurde mir eine Meldung präsentiert: „Kein Signal. Überprüfen Sie die Antennenverbindung.“ Ich schaute nach draußen: Windstille, tiefgrau verhangener Himmel, zudem noch die Meldung im Ohr, dass zur Zeit ein Unwetter über NRW tobe. Da macht der Satellitenempfang nicht immer mit, also durchaus erklärlich, diese Meldung.

Der Empfang kam an dem Tag nicht zurück, auch nicht am nächsten, und so machte ich mich  an die systematische Fehlersuche. Beide Antennenanschlüsse waren ok, sie funktionierten mit diversen Geräten wie TV-Karten – nur mit dem neuen Sony nicht. Deprimiert packte ich den Fernseher in den Originalkarton und formulierte eine kleine Fehlerbeschreibung für die Reklamation. An dem Tag ging alles schief: Die Reparatur der Terassen-Schiebetür erwies sich als kompliziert und aufwändig, der schon Tage andauernde Telefonterror erreichte mit 7 Anrufen (jeweils andere Nummer) einen Höhepunkt. Nur eines klappte: der Anschluss des alten Analog-Fernsehers, den ich zusammen mit dem Receiver noch aufbewahrt hatte.

Als ich den Alten wieder einschaltete und erstmals das vertraute Bild vor Augen hatte, war ich überrascht. Sicher, aus der Nähe betrachtet war vieles verwaschen, aber aus 3 Metern Entfernung spielte das kaum noch ein Rolle. Stattdessen waren die Farben um Größenordnungen angenehmer als beim Sony. Nein, nicht perfekt, aber warm, gemütlich, wohnlich. Eine überaus freundliche Bildwiedergabe, die so richtig zur Gemütlichkeit unseres Wohnzimmers passt. Im Vergleich dazu wirkte der Sony kalt, perfekt und eiskalt, wie ein Fremdkörper.

Am Abend telefonierten wir mit unserer Tocher, wobei wir auch von dem Missgeschick mit den neuen TVer erzählten. „Gleich morgen wird das Teil reklamiert, ist ja noch Garantie drauf“, versicherte ich. Meine Tochter, die ebenfalls einen Sony besitzt,  meinte: „Bist du sicher? Die gleiche Fehleranzeige erhältst du, wenn du mal aus Versehen von digital auf analog umschaltest, mit der Taste direkt über der 1.“  Direkt über der 1? Ich wollte doch die ARD einschalten, sollte ich dabei aus Versehen? Aber eine derart oberflächliche, sogar irrefeführende Fehlermeldung? Hätte es dann nicht heißen müssen: „Kein Signal am Analogeingang.“?

Kurz: Der peinliche Gang in der Reklamationsabteilung blieb mir erspart; es war wirklich nur ein versehentliches Antippen einer falschen Taste. Also wird der Sony wieder angeschlossen, aber nicht heute und auch nicht morgen. Ein paar Tage lang genieße ich das unvollkommene, aber wundervoll angenehme Bild des Analog-Fernsehers. Ein paar Tage lang genieße ich die freundliche Unvollkommenheit, genieße es, Details nicht sehen zu müssen, die mich im Grunde überhaupt nicht interessieren.

Wenn ich an die Leute denken, die sich eine ganze Wand mit einem 4k- oder 8k-Fernseher tapazieren, dann frage ich mich, ob die überhaupt noch wissen, worauf es wirklich ankommt. Leben die eigentlich noch, oder sind das gelenkte Medienkonsumenten? Und was wird aus einer Gesellschaft, die hinter Blendinnovationen herhechelt und den Blick für das Wesentliche verliert? Nichts gegen Fortschritt, solange er wirklich etwas bringt und nicht nur den global operierenden Herstellern riesige Geldsummen in die Kasse spült, die wiederum verwendet werden, um … Na, wofür wohl? Mein Gott, wie kaputt ist das alles.

Künstliche Intelligenz

Dieser Beitrag, ersmals im Januar 2019 veröffentlicht, wurde an einigen Stellen leicht überarbeitet.

Einleitung

Ich sitze vor dem Rechner und verfolge auf Youtube ein Tutorial, mit dem ich mich möglichst schnell in die Game-Engine „Godot“ einarbeiten will. Dabei geht es mir nicht um die Entwicklung eines Spiels, sondern um eine Entwicklungsumgebung, mit der ich – vielleicht – meine Pläne zur Visualisierung von virtuellen 3D-Landschaften realisieren kann. Doch vorerst müssen die Zusammenhänge des komplexen Programms ergründet werden, und so nebenbei geht es um das Erlernen einer weiteren Programmierspache, die in diesem Fall von Python abgeleitet wurde.

Also lausche ich dem Tutor, der in angenehmer Sprache Schritt für Schritt in die Geheimnisse des Programms einführt, und zwar an Hand eines simplen 2D-Spiels. Es ist so etwas wie Bildschirmtennis, bei dem man gegen den Computer spielt. Natürlich muss ich die einzelnen Schritte nachvollziehen, denn einfach zuhören bringt nichts. Als das Kapitel zur Steuerung des Computer-Schlägers („Gegner“ genannt) dran ist, verspricht der Tutor, dass nun etwas KI dabei sei. Etwas „künstliche Intelligenz“? So wie eine Prise Salz? Was soll das denn? frage ich mich verblüfft und bin natürlich neugierig.

So programmiere ich also nach Vorschrift das Verhalten des Balkens, der sich nach oben und unten bewegt und so etwas wie einen Tennisschläger darstellen soll. Eine extrem simple Anglegenheit. Damit der Schläger sich nicht immer auf Ballhöhe Weiterlesen

Zukunft

Vorweg: Mir kommt dieser Beitrag so vor, als formulierte ich einen Abschied von allem, was für mich in den letzten Jahren wichtig war und wofür es sich zu kämpfen lohnte. „Datenmissbrauch“, was bedeutet der Begriff noch, wenn jeder Gebrauch von Daten als richtig und zukunftsweisend propagiert wird? Wenn „Big Data“ von höchster politischer Stelle als das wichtigste gesellschaftliche Ziel der Zukunft bezeichnet wird? Oder „was sonst noch schief läuft“. Was kann denn überhaupt schief laufen, wenn die Entwicklung eine nicht mehr beeinflussbare Eigendynamik entwickelt hat? „Schief laufen“ impliziert immer die Abweichung von einer erstrebenswerten Richtung, und wenn es nur noch eine Richtung gibt, braucht man sich keine Gedanken über Abweichungen zu machen. Dann geht es doch nur noch darum, möglichst schnell und vor allem vornean zu laufen, um sich wenigstens zu den Profiteuren zählen zu können. Nicht wahr?

Die Digitalisierung [1] mit ihrer algorithmischen Überhöhung, der künstlichen Intelligenz, spukt derzeit als Realvision in den Köpfen von Futuristen herum, oder als gesellschaftliches Ziel erster Ordnung in den Köpfen von Politikern. Vordenkende Wirtschaftsexperten strahlen vor Glück angesichts der sich bietenden Chancen, und Wissenschaftler bejubeln die Komplexität kommender Gesellschaftsordnungen und die Adaptivität der Verfahren der Zukunft. Die Euphorie geht so weit, dass selbst Warnungen eines Stephen Hawking als eindimensional abgetan werden, weil sie den digitalen Aufbruch stören. (Nur am Rande: Wer die IT-Szene und das Selbstverständnis von Programmieren ein wenig kennt, wundert sich allerdings kaum über eine derartige Arroganz.) Dabei gibt es überhaupt keine Störungen mehr, denn in einem Punkt haben alle recht: Die Welt steckt bereits mitten drin in dem digitalen Wandel, und er ist nicht mehr aufzuhalten. Stören geht nicht mehr, vielleicht noch ein bisschen wirkungsloses Quertreiben. Doch angesichts der unbremsbaren Dynamik verhallen die kritischen Stimmen.

Wenn man die vielen Menschen mit dem scharfen Zukunftsblick richtig versteht, dann wird sich restlos alles ändern. Menschen werden mit Maschinen kommunizieren, nicht auf Basis einer Mensch-Werkzeug-Relation wie bisher, sondern als Partner auf gleicher Augenhöhe. Intelligente Maschinen und Gegenstände, natürlich völlig vernetzt, werden ein Funktionsgeflecht bilden, in das sich auch die Menschen einfügen (müssen). Mit welchen Aufgaben, darüber gibt es noch keine verlässlichen Prognosen. Aber in einem sind sich alle einig: Die Umwälzungen werden so gravierend sein, dass die herkömmlichen Werte bedeutungslos werden.

Wenn man die Diskussionsbeiträge zu dieser Thematik liest, dann stößt man auf eine durchweg positive Beurteilung der Zukunftsaussichten. Mir ist dabei allerdings aufgefallen, dass praktisch keiner dieser Zukunftseuphoriker irgendeinen menschlichen Wert in die Diskussion eingebracht hat. Wahrheit, Persönlichkeitsrechte, Privatsphäre, Eigentum,  Freiheit, Verantwortungsbewusstsein, Achtung, Leid und Mitleid, Persönlichkeitsformung usw., all das kommt in den Zukunftsskizzen einfach nicht vor, allenfalls Lächerlichkeiten wie Komfort und Bequemlichkeit. Und sie argumentieren nicht einmal unlogisch, wenn sie diese Werte und Ziele unterschlagen: sie werden nämlich nicht mehr gebraucht. Die Rolle der Menschen in der Zukunft wird darin bestehen, dass sie in einem total-digitalen Geflecht reibungslos funktionieren. Da braucht man keine anfechtbaren, menschlichen Entscheidungen; die Welt wird sich selbst perfekt organisieren und dabei – so gut es geht – die Menschen mitnehmen. Selbst ein hochrelevantes Grundrecht wie das Recht auf Datenschutz wird bedeutungslos werden, denn Datenschutz stört nur das reibungslose Funktionieren auf Datenbasis. Und, noch einmal: Bedeutungslosiskeit entwertet; selbst Grundrechte können in Bedeutungslosigkeit versinken.

Gerne werden in der Diskussion die Vergleiche zu anderen technischen Revolutionen bemüht: Dampfmaschine, Automatisierung und – natürlich – Buchdruck. Klar, diese Fortschritte haben die Welt nachhaltig verändert, fast so weitreichend wie die derzeitige Digitalsierung. Dennoch gibt es einen ernormen Unterschied. Bisher haben die Menschen immer ihre Position behauptet; sie haben die Technik nutzbar gemacht und ihren Wertekatalog zwar den Umständen angepasst, doch im wesentlichen bewahrt. Aber wo Maschinen und Roboter die Verantwortung für die Abläufe übernehmen, brauchen die Menschen keinen Wertekatalog mehr. Er wird obsolet, denn Roboter können damit nichts anfangen.

Es ist wichtig, sich einfach mal die so nachdrücklich angestrebten Ziele der Digitalisierung vor Augen zu führen. Es geht darum, die gesamte Welt mit all ihren technischen Dingen, Abläufen, Menschen, Produktionsverfahren, Versorgungen, Administrationen, Verkehrsstrukturen usw. in ein gigantisches Computernetz einzubinden und mit Hilfe künstlicher Intelligenz zu steuern. Die entscheidenden Kriterien sind dabei Effektivität, Ressourcenschonung und möglichst reibungsloses Funktionieren. Das sind Ziele, die auch in der vordigitalen Zeit schon eine wichtige Rolle spielten, aber bisher gab es daneben noch andere Ziele, die man vielleicht als „menschlich“ bezeichnen könnte. Die werden wegfallen.

Zum Beispiel Freiheit. Freiheit kann nur dort existieren, wo es keine Kontrolle gibt. In Zukunft jedoch werden die Menschen auf Schritt und Tritt überwacht werden. Sämtliche Aktionen werden aufgezeichnet und analysiert werden. Selbst in die privatesten Räume werden die digitalen Kontrolleure eindringen – mit Einwilligung der Betroffenen. Und im öffentlichen Raum wird es kein Verstecken mehr geben, denn die Verkehrskonzepte der Zukunft basieren allesamt auf lückenloser Überwachung der Standorte aller Verkehrsteilnehmer. Jeder Mensch wird demnächst in der Öffentlichkeit eine Art von Fußfessel mit sich herumtragen, sei es in Form eines smarten Fitness-Trackers, in Form eines smarten Autos, oder in Form eines Smartphones, oder als implantierten RFID-Chip. Und selbst wenn man keins dieser Mittel benutzt, wird die Gesellschaft einem verlässlich unter die Arme greifen: mit digitalen Bezahlsystemen, mit digital lesbaren Ausweisen, mit Überwachungskameras usw. usw. Jeder kann sich demnächst nur noch scheinbar frei bewegen, denn er wird immer zu orten sein. Wie gesagt: Effektivität und reibungsloses Funktionieren.

Zum Beispiel Privatheit. Das Herz der digitalen Welt sind die miteinander vernetzten Algorithmen, und die benötigen Daten als Betriebsstoff. Je mehr Daten, desto sicherer und effektiver der Betrieb. Und natürlich werden kaum noch ausgewählte Daten von Menschen eingespeist, sondern die Algorithmen holen sie sich selbständig, meistens über Sensoren oder durch Auswertung von Kommunikationsinhalten. Die Grenze zwischen privaten und öffentlichen Daten spielt dabei keine Rolle mehr, denn Privatheit spielt sich ausschließlich in individuellen, ganz persönlichen Wahrnehmungsräumen ab, und Algorithmen können hier keine Unterscheidung treffen. Auch nicht auf Basis künstlicher Intelligenz, weil es keine datenmäßig erfassbaren Kriterien gibt, die Privatheit nicht nur formal, sondern auch bedeutungsmäßig bewerten. Die Grenzen aus der Analogzeit, z.B. in Form von Wohnungen, sind längst eingerissen. Das smarte Home ist dabei, die privaten Räume vollständig zu öffnen. Die Menschen schauen bereitwillig zu, denn hier spüren sie hautnah, wie angenehm es sich anfühlt, wenn sie effektiv umsorgt werden, und wenn es um sie herum reibungslos funktioniert. [2]

Zum Beispiel Wahrheit. Wahrheit ist die Voraussetzung für den verlässlichen Umgang der Menschen miteinander. Doch je mehr die unmittelbaren Kontakte in den Hintergrund treten und Kommunikation digitalgesteuert abläuft, desto bedeutungsloser wird Wahrheit, wenn wir den aus analoger Zeit bekannten Wahrheitsbegriff zugrunde legen. Stattdessen wird Wahrheit vor allem das sein, was den Erfolg begünstigt bzw. die Funktionsabläufe in die gewünschte Richtung lenkt. Wahrheit wird zielorientiert und zweckgebunden sein. Wo sachliche Richtigkeit erforderlich ist, werden Faktenchecks eingesetzt, die das faktisch Verwertbare aus der Information extrahieren. So widerlich, ja nach herkömmlichen Maßstäben sogar kriminell das Vorgehen von Cambridge Analytica auch war, nach den Normen einer digitalisierten Gesellschaft handelte das Start-up-Unternehmen absolut folgerichtig und systemkonform. Wie gesagt: reibungsloses Funktionieren und Effektivität.

Zum Beispiel Demokratie. Das Internet gilt als das demokratischste Medium überhaupt. Jeder kann sich äußern, jeder kann Einfluss auf die Meinung anderer ausüben. Es gibt, was die weltweite Kommunikation betrifft, keine Barrieren. Und doch zeigt sich, dass etablierte demokratische Systeme durch das Internet nicht gestärkt, sondern ausgehöhlt werden. Und das ist nur logisch, denn so leicht, wie sich Informationen auf digitalem Wege verbreiten lassen, so leicht lassen sie sich auch bündeln und filtern. Ja, meinungsbildende Informationen lassen sich ganz einfach und effizient digital erzeugen, in beliebiger Menge, mit beliebiger Reichweite. Bürgerentscheidungen auf Basis solcher Informationen sind nicht demokratisch, sie sind schlichtweg gelenkt. Es gibt genügend Beispiele dafür. Das, was wir heutzutage (noch) als Demokratie verstehen, hat in einer voll digitalisierten Gesellschaft keine substanzielle Bedeutung mehr. Die Bürger werden sich demokratisch fühlen und gelenkt entscheiden. Man kann es auch so formulieren: Big Data und Demokratie passen nicht zusammen.

Ein weiterer Punkt, auf den ich unbedingt hinweisen möchte: Eine konsequent durchdigitalisierte Gesellschaft wird automatisch in einer Überwachungsgesellschaft  münden. Alle Erfahrungen der Weltgeschichte haben gezeigt: Was an „Fortschritten“ realisierbar ist und den Menschen (oder einigen Menschen) einen echten oder scheinbaren Vorteil bietet, wird irgendwann realisiert, trotz großer Bedenken. Die Barrieren werden Stück für Stück fallen; die Menschen gewöhnen sich an Kontrollen und werten die real empfundenen Vorteile höher als die abstrakten Gefahren oder Nachteile. Ob das nun zu einem diktatorischen Überwachungsstaat wie in China führt oder zu einer scheindemokratischen Ameisengesellschaft, in der sich die Menschen durch ihr Leben treiben lassen, ist eher belanglos. Die Menschen werden zufrieden sein, wenn sie merken, dass es sicher und reibungslos funktioniert. Glück ist flexibel definierbar, und künstliche Intelligenz wird schon herausfinden, welche Art von Glück die Menschheit braucht, um sich gefügig einzuordnen.

Nun wird es natürlich Einwände geben. Man wird sagen: Warum so pessimistisch, es kommt doch darauf an, wie man die Digitalisierung gestaltet. Ich fürchte, dass selbst das dummdreiste Beispiel von dem Hammer, mit dem man einen Nagel ein- und einen menschlichen Schädel kaputtschlagen kann, bemüht wird. Alles Quatsch, nicht mehr als kindische Versuche, auf Rettungsversuche hinzuweisen, wo man alle Rettungsmöglichkeite längst aus der Hand gegeben hat. Der Zweck der künstlichen Intelligenz ist es ja gerade, Entscheidungen an Algorithmen zu delegieren, und aus einer zunehmend passiven Rolle heraus lässt sich immer weniger gestalten. The better place, das große Versprechen der Digitalisierung, wird eine Welt sein, in der die Menschen nur noch Nebenrollen spielen.

Inzwischen kommen mir meine bisherigen Beiträge wie ein naives Festhalten an Bedeutungslosigkeiten vor. Dafür lohnt es sich nicht, sich zu engagieren. Die Digitalisierung hat die Menschheit bereits so stark gefesselt, dass jede Warnung wie das Piepsen eines kleinen Vogels vom Wind fortgeweht wird. Außerdem ist es für eine Rückkehr, ja selbst ein Innehalten längst zu spät. Die Menschen wollen nicht innehalten; sie wollen die Nachteile nicht wahrnehmen und lieber einfach mitmarschieren, egal wohin es geht. Und dass es zügig vorangeht, dafür sorgen nicht nur die Zukunftsforscher mit ihren Träumen oder die Marktschreier der digitalen Patentlösungen. Nein, die Triebkräfte sind vor allem in den Vorstandsetagen großer IT-Unternehmen zu suchen, die mit der Digitalsierung Milliarden verdienen. Das reizt auch kleinere Unternehmen, die die Chance wittern, auf dem digitalen Weg groß zu werden und auch Milliarden zu verdienen. „Ich will auch, sonst tritt man mich tot!“ hört man immer wieder das lautstarke Jammern der Wirtschaftsvertretungen – mit der Politik im Schlepptau. Auch – oder vor allem in Deutschland.

Ich wünsche den Lesern freuden- und eierreiche Ostertage. Wie, keine Eier zu Hause? Einfach Alexa anbrüllen: „Besorg mir Ostereier, aber schnell!“ Kann natürlich sein, dass Alexa mault: „Nee, bei deinem derzeitigen Cholesterinspiegel? Überhaupt isst du in letzter Zeit zu viel Eier: vorgestern 3, gestern 1, heute wieder zwei. Eier sind erst mal gesperrt.“ Tja, dann also Ostern ohne Eier. Gut, dass jemand für dich sorgt, denn du willst ja immer einwandfrei funktionieren. [3]


Nur als Kostprobe verweise ich auf einen typischen Grundlagenbeitrag zur Digitalisierung bzw. künstlichen Intelligenz. Beeindruckend kompetenter Experte, der Autor des Artikels. Ob jemand mit einem größeren field of view eine ähnlich ausgeprägte Kompetenz entwickeln kann?

Klaus Henning: Wie künstliche Intelligenz die Welt verändert


Anmerkungen:

[1] Einigen Lesern mag auffallen, dass ich in diesem Beitrag die Begriffe künstliche Intelligenz oder Digitalsierung ohne Gänsefüßchen verwende. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Digitaltechnik nicht das entscheidende Merkmal der Digitalisierung ist, und dass es sich bei künstlicher Intelligenz nicht wirklich um Intelligenz handelt. Aber die Diskussion um die Begriffe ist müßig; es geht darum, die Dinge so zu benennen, wie sie allgemein verstanden werden. Also sei’s drum.

[2] Im Zusammenhang mit dem SmartHome erinnere ich mich immer wieder an eine kleine Begebenheit, die schon etliche Jahre zurückliegt. Meine Frau und ich unterhielten uns über den Zaun mit einem benachbarten Ehepaar, während dessen kleine Tochter unbedingt etwas von ihrer Mama wollte und an deren Hand zerrte. Die Nachbarin lehnte sehr nachdrücklich ab, worauf das Kind wütend auf den Boden stampfte und sich dann schmollend hinter einem relativ lichten Forsythienstrauch versteckte. Um nicht gesehen zu werden, hielt die Kleine beide Hände vors Gesicht.

Eine normale, frühkindliche Auffassung: Wenn ich die anderen nicht sehe, können sie mich auch nicht sehen. Ähnlich kommen mir die Anhänger des SmartHome vor. Sie sehen nicht die ständigen Beobachter und kommen sich vor, als würden sie nicht beobachtet. Im Grunde ist diese kindische Einstellung bereits ziemlich verbreitet, denn wo Erwachsene dank künstlicher Intelligenz nicht mehr mündig sein müssen, lassen sie sich gerne in naive Kindlichkeit zurückfallen.

[3] Ok, der Eierhinweis mutet ein wenig wie ein harmloser Gag aus der Anfangszeit der Digitalüberwachung an. In Wirklichkeit werden die Überwachungs- und Kontrollprozesse natürlich viel intensiver, viel präziser, viel tiefgründiger greifen. Essgewohneiten werden nicht nur beobachtet und protokolliert werden, sondern auch im Hinblick auf die aktuelle Gesundheits- und Organkonstellation individuell gesteuert werden. Wenn es demnächst noch Versicherungen geben sollte, dann werden diese natürlich voll informiert sein und ein gesundheitliches Fehlverhalten zeitnah und präzise sanktionieren, etwa durch täglich angepasste Beitragsabrechnungen. Die zur Zeit eingeführte Gesundheitskarte ist der erste, kleine Schritt in die digitalisierte (digitale) Gesundheit. Sie sorgt nicht nur für angemessene Medikation und Schutz vor Nebenwirkungen, sonderd vor allem für Transparenz, wenn es um die Ursachenprofile von persönlichen Krankheitsbildern geht. Hauptsächlich also ums Verhalten.

Im übrigen ist die Gesundheitskontrolle ein sehr wichtiger Aspekt im digitalen Kontext. Es soll ja alles reibungslos und effektiv funktionieren. Das gilt für den Verkehrsfluss gleichermaßen wie für das Verhalten der Menschen, die Arbeitsweise von Maschinen oder die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern. Nur organisch gesunde Menschen können die ihnen zugedachte Rolle in der digitalen Umgebung zuverlässig erfüllen. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass neben dem Nitratgehalt im Boden oder dem Materialzustand von Brückenbeton auch der Cholesterinspiegel von Menschen permanent kontrolliert wird. Wie gesagt, alles muss funktionieren.

Und für all diese Maßnahmen gibt es wohlfeile Argumente. Na denn …

Gang durch den Tunnel

Zu den nützlicheren Dingen, die die Digitalisierung hervorgebracht hat, gehören m.E. die E-Book-Reader. Ich besitze schon seit Jahren einen Kindle und habe ihn zu schätzen gelernt. Wenn ich in Urlaub fahre, brauche ich keine 3 oder 4 Bücher in den Koffer zu packen, sondern lade mir ausreichend Lesestoff in den Reader.

Oder beim Zahnarzt. Wer kennt nicht diese Situation: Man wird von der freundlichen Praxis-Mitarbeiterin (früher hießen diese Damen „Arzthelferinnen“) in den Behandlungsraum geführt und setzt sich auf den bekannten Stuhl. Nachdem die Dame einem das Papierlätzchen umgebunden hat, verschwindet sie mit dem Hinweis, der Dokor komme bald, etwas Geduld bitte. Nun, die Geduld besteht darin, dass man 15 Minuten lang auf die schnuckelig-spitzigen Instrumente starrt oder Betrachtungen über die Funktionsweise der im Halter hängenden Bohrmaschinen anstellt. Nicht gerade erbauend. Die Wartezeit, bis der Doktor mit einem fröhlichen „Guten Tag, na, dann wollen wir mal sehen“ hereinplatzt, seinen Hocker zurechtrückt, einen in eine liegende Position bringt und schließlich nach Spiegel und Prockelspitze greift, lässt sich mit einem E-Book wesentlich sinnvoller überbrücken. Ich jedenfalls ziehe bei solchen Gelegenheiten mein ansonsten nicht so geschätztes Smartphone aus der Hosentasche und lese. Die Zeit vergeht dabei wie im Fluge.

Dennoch haben E-Book-Reader auch ihre Tücken. Das bekam ich vor einigen Tagen (erneut) zu spüren, als ich im Auto auf meine Frau wartete, die noch einiges erledigen wollte. Auf meinem Smartphone wurde nach dem Anwerfen des Kindle-Readers die Synchronisation mit dem „richtigen“ Reader angeboten. Aber da war wohl etwas verstellt, ich landete irgendwo im hinteren Bereich des Krimis, ich konnte mi Text und Handlung nichts anfangen. Also suchen. War ich hier schon? Nein, zu unbekannt. Weiter zurück: Ja, bekannt, aber dieser Typ dürfte nach meinem Kenntnisstand doch gar nicht mehr leben. Und so gehe ich Seite für Seite voran, bis ich auf Textstellen stoße, die mir noch fremd vorkommen. Als ich schließlich glaube, den Anschluss gefunden zu haben, klopft meine Frau an die Scheibe und öffnet die Tür auf der Beifahrerseite. Tja.

Derartige Erfahrungen, wozu auch die völlige Untauglichkeit im Zusammenhang mit Sachbüchern gehört, machen deutlich, wo es bei den E-Book-Readern hapert. Es gibt überhaupt keinen Überblick oder ein Gespür dafür, wo im Buch man derzeit steckt. Es ist, als würde man durch einen schmalen Tunnel geführt, ohne Möglichkeit, nach rechts oder links auszuweichen oder einfach mal umzudrehen. Es gibt Lesezeichen, sicher, aber die sind abstrakt, und der Sprung zu einer solchen Markierung erfolgt völlig intransparent. Orientierung? Totale Fehlanzeige. Wie souverän ist dagegen der Umgang mit einem Papierbuch. Man kann schnell blättern, man kann Notizen an den Rand schreiben, Textstellen markieren, man kann auf die Schnelle einen Finger zwischen die Seiten legen, um mal kurz zu einer anderen Stelle zu springen. Mit einem Satz: In einem Papierbuch ist es überaus einfach, den Überblick zu behalten. Man geht souverän mit dem Buch um.

Beim E-Book ist es genau umgekehrt: Der Algorithmus geht souverän mit den Lesern um; sie werden wie an der Leine durch den erwähnten Tunnel geschleust, und solange man nicht aus der Reihe springt und mal einen Abstecher ans Ende oder sonstwohin macht, funtkioniert das Lesen ja auch reibungslos. In bestimmten Fällen kann man das akzeptieren, wie die einleitenden Beispiele demonstrieren, aber man sollte sich der systembedingten, grundsätzlichen Nachteile bewusst sein. Nur dann kann es zu einer sinnvollen, bereichernden Synthese kommen.

Im übrigen, und das ist der eigentliche Grund, warum ich überhaupt auf die E-Book-Reader eingehe, ist das Handicap der fehlenden Übersicht ein Merkmal, das sich durch die gesamte „Digitalisierung“ zieht. Der Nutzer wird geleitet; er hat einfach brav das zu tun, was die Algorithmen von ihm verlangen. Die Freiheit, die Sachverhalte mal aus einer gehörigen Entfernung zu betrachten, um ein Urteil zu bilden und evtl. andere Wege wählen zu können, wird gezielt eingeschränkt. Einfach mal die „Digitalisierung“ etwas kritisch sehen (aucn wenn’s unpopulär ist) kann überaus aufschlussreich sein.

Organ-Recycling

Fast alle, die an der Initiative von Spahn Kritik üben, scheinen im Vorfeld zu betonen, dass sie einen Organspenderausweis haben, also kritikberechtigt sind. Auch ich bin kritikberechtigt. Dennoch akzeptiere ich, dass es Menschen gibt, die aus weltanschaulichen Gründen keine Organe spenden – und auch nicht empfangen wollen. Diese Menschen zu einem ausdrücklichen Nein zwingen zu wollen, und das noch mit dem Hinweis, dass dieses Nein einer Weigerung, Leben zu retten, gleichkommt, ist einfach nur dreckig.

Im Fernsehehen wurden zwei Kommentatoren bemüht, einer für, der andere gegen die Widerspruchslösung. Derjenige der beiden, der die Widerspruchslösung befürwortete, sagte sinngemäß, es dürfe nicht sein, dass funktionsfähige Organe beerdigt oder verbrannt würden. Er hätte es auch so formulierlen können: „Es darf nicht sein, dass wertvolle Organsubstanz einfach entsorgt und nicht einem Recycling zugeführt wird.“ –

Bei einer solchen Einstellung bekomme ich einen Brechreiz. Ich war schon drauf und dran, meinen Organspenderausweis zu verbrennen. Wenn das der ethische Hintergrund einer Organspende sein soll, dann sollte man besser die Finger ganz davon lassen, denn so kann man mit Menschen nicht umgehen. Und so darf man auch das menschliche Leben nicht bewerten. Wenn wir menschliches Leben auf das Funktionieren von Organen reduzieren wollten, dann wäre das Töten anderer Menschen kaum mehr als Sachbeschädigung.