Ach ja, der Lindner

Vor etlichen Jahren war mein Verhältnis zur FDP noch weitgehend ungetrübt. Immerhin war die Partei für mich wählbar, sozusagen als Ausweichmöglichkeit, wenn in meiner Stammparteil mal wieder zu viel Mist fabriziert wurde. Zu der Zeit bestimmten noch große Namen das Geschehen in der F.D.P: Heuss, Genscher, Baum usw. Mit Westerwelle, dem Vetreter der „Besserverdienenden“, war dann Schluss mit der FDP. Finito, endgültig. Freiheit hat sehr viele Gesichter, auch edle, aber unbeschränkter Wirtschaftsliberalismus ist eher eine Fratze.

Und nun der Lindner. Neulich fragte mich ein guter Bekannter nach meinen politischen Ansichten. Ich erklärte ihm, dass ich es kurz machen könne. Er solle sich einfach anhören, was der FDP-Lindner so vertrete, und meine Ansichten seien genau entgegengesetzt zu denen des Herrn Lindner, in jeder Beziehung. In jeder. So kann einem also auch ein Andersdenkender Orientierung geben, man muss nur den Maßstab um 180° drehen.

Jetzt ist aber dieses vermeintlich eindeutige Gefüge durcheinander geraten, denn der Linder hat verlauten lassen, dass die Corona-Ladenbeschränkungen (Quadratmeter pro Kunde usw.) ein „Verödungsprogramm für die Innenstädte“ und ein „Programm, die Marktanteile von Amazon in noch höhere Höhen zu schrauben“ seien. Verdammte Kiste, da hat er recht, der Lindner. Und das irritiert mich, denn immer wieder betont er (fast in jedem 3. Satz), wie wichtig die Digitalisierung sei. Der kann fast gar nichts mehr begründen, ohne den qualvollen Mangel an Digitalem in seine Begründungskontexte einfließen zu lassen.

Nun ist es aber so, Herr Lindner: Amazon ist keine unerwünschte Nebenwirkung der Digitalisierung, sondern Amazon IST Digitalisierung. Wie passt das zusammen, bzw. was vertreten Sie eigentlich? Auch die sich leerenden Innenstädte, von Corona mal abgesehen. Diese Leere ist keine Folge der Digitalisierung, sondern Digitalsierung definiert sich über den schrumpfenden Verkehr in den Städten. Digitalisierung ersetzt das Treiben auf den Straßen durch ein Treiben im Netz, das ist einer ihrer Wesenskerne. Warum also jammern? Wer sagt, er wolle digitalsieren, sagt gleichzeitig, er wolle die Menschen von den Straßen holen, quasi aus dem öffentlichen Verkehr holen und vor dem privaten Bildschirm platzieren bzw. ans Smartphone ketten. Was anders ist denn das HomeOffice bzw. das HomeSchooling (Scheißwort)?

Und so weicht mein politisches Feindbild auf, wird wabbelig, kann mich nicht mehr stützen und motivieren. Orientierungslos suche ich nach dem richtigen Weg. Es sei denn … Ja, das wird es sein. Wenn der Linder von „Digitalisierung“ schwärmt, dann meint er vielleicht nur bestimmte Aspekte der Digitalisierung (obwohl das Abtrennen praktisch unmögllich ist). Vielleicht meint er nur das, was schlaue Leute, die in die Zukunft schauen können, mit „Industrie 4.0″ bezeichnen und das Ganze auch schon in superweiser Voraussicht als „Revolution“ einordnen. Sei’s drum. Es wäre aber wünschenswert, wenn Herr Lindner dann nicht verallgmeinernd von „Digitalisierung“ sprechen würde, sondern sich etwas präziser ausdrücken würde. Er könnte seine Ziele ja mit dem Begriff „digitale Transformation in den Produktions- und Wertschöpfungsketten“ beschreiben. Dann wüsste jeder, was er meint. Seine Nähe zum liberal ausgerichteten Industrie-Management sollte doch geeignet sein, u.a. seinen Sprachschatz zu erweitern, oder? Und wenn er seinen geliebten Managern mal genauer aus Maul schaut, dann findet er sicher noch eine Möglichkeit, den Begriff „Skalierung“ hineinzubasteln. Viel Erfolg.

Vogelkacke

Als der Gauland die Nazizeit als Vogelschiss in der ruhmvollen (oder so), deutschen Geschichte bezeichnete, schlugen die Wellen hoch. Wie kann man nur! Ich muss ehrlich gestehen, dass ich diesen Vogelkackvergleich als ziemlich pfiffig empfand. Nur in der Anwendung dieser Metapher hat er wohl die falsche Blickrichtung gehabt.

Denn: Alle Verbrechen, Kriege und Fehlentwicklungen der gesamten Menschheitsgeschichte zusammengenommen sind nur ein Vogelschiss, verglichen mit dem, was im vorigen Jahrhundert von Deutschland ausging. Gibt es überhaupt ein Wort, um diese teuflische Entartung alles Menschlichen angemessen zu beschreiben? Verbrechen? Wohl kaum, viel zu schwach, dieser Begriff. Vielleicht kann man vom Bösen schlechthin sprechen, vom schlimmsten, wozu Menschen überhaupt imstande sind.

Kann man dieses Böse überhaupt fassen? Kann man es aufarbeiten? Vielleicht kann man die Menschen verstehen, die Jahrzehnte lang nicht imstande waren, die Nazizeit aufzuarbeiten. Viele Richter, Ärzte, Beamte haben in den Jahrzehnten nach Kriegsende einfach weitergemacht, als wären sie immer rechtschaffene Bürger gewesen. So, als wäre ihr böses Verhalten während der 12 Kernjahre nur eine Rolle gewesen, in die sie hätten schlüpfen müssen. Aufarbeitung? Fehlanzeige. Erst Ende des Jahrhunderts, als nur noch wenige kleine Fische zu fassen waren, traute man sich daran. Irgendso ein Mensch, einer, der auf dem Turm eines Konzentrationslagers Wache schob, den konnte man noch schnappen und vorführen, nach Jahrzehnten des Schweigens und Verdrängens. Gefahr für die eigentlich Bösen bestand da nicht mehr, die hatten inzwischen ihr Leben ungeschoren zu Ende gelebt.

Vielleicht sollte man sich mal wieder vor Augen führen, wer denn das Böse verkörperte. Hi-Hi-Gö-Gö, also Hitler, Himmler, Göbbels, Göring? Ja, ja, ja, natürlich, aber diese Kerntruppe hat es schon reichlich abgekriegt, zu Recht natürlich. Wie wär’s mal mit einem Blick in die zweite Reihe: Da haben wir den Josef Mengele, der (und viele andere) den Berufsstand der Ärzte total pervertierte und die chirurgischen Instrumente nicht zum Heilen, sondern zum Töten und Foltern benutzte. Da haben wir den Roland Freisler, der als Vorsitzender des Volksgerichtshofs geradezu satanisch auftrat und dabei das Recht in den Boden stampfte. Da haben wir den Julius Streicher, den widerlichen Wegbereiter des Antisemitismus, der in seinem „Stürmer“ die wahnwitzigen Zerrbilder von Juden zeichnete. Ja, diese Leute stehen genau so für das Böse wie das HiHiGöGö-Quartett.

Wer denkt noch an Adolf Dieckmann, der in Orodur-sur-Glane den Befehl gab, alle Bewohner des Ortes auf brutalste Weise umzubringen? Wer denkt noch an das Massaker von Lidice, wo alle 184 Männer des Dorfes erschossen und die Frauen und Kinder verschleppt wurden? Nur ein Randereignis in dem unendlichen Leiden des Zweiten Weltkrieges mit vielen Millionen Opfern? Etwas zum Gedenken und Nichtvergessen? Da hat, verdammt noch mal, jemand den Befehl gegeben, obwohl die Massaker nichts mit dem Kriegsgeschehen zu tun hatten. Wer war das? Wer macht sich heute noch die Mühe, diese Verantwortlichen überhaupt ausfindig zu machen? Und die genannten Massaker sind nur zwei von hunderten Tötungsorgien, bei denen einer den Befehl gab, mehrere den Befehl weiterreichten und viele Befehle und Morde ausführten – jenseits des Kampfgeschehens, obwohl der Krieg an sich bereits ein gigantisches Verbrechen war.

Wer denkt noch an die SS-Schergen der Einsatzgruppen, die ihre widerlichsten Instinkte auslebten, als sie genüsslich hinter den Frontlinien alles massakrierten, was jüdisch oder sonstwie verdächtig vorkam? Wer denkt noch an die vielen braven Bürger, die das Feinbild des Juden dankbar aufgriffen und endlich Gelegenheit hatten, ihre Agressionen an jemand auszulassen? Viele, zu viele, viel zu viele haben mitgemacht, gerne mitgemacht. Fast ein ganzes Volk hat sich dem Bösen angeschlossen – aus Schwäche, aus „Pflichtbewusstsein“, aus blindem Eifer, aus niederen Instinkten, aus Mordlust, aus bequemem Ignorieren des im Grunde Offensichtlichen. Auch aus Angst, ja.

Nein, Herr Gauland, wenn Sie all dieses Böse zusammenwerfen, dann ergibt es einen Berg von Unrat. Die anderen schlimmen Vorgänge in der Weltgeschichte sind dagegen nur kleine Häufchen. Und ja, wenn heute wieder Nationalisten grölend durch die Straßen marschieren, wenn heute wieder Typen mit neonazistischer Gesinnung in den Landtagen ihre Parolen auskotzen und „Deutschland über alles“ brüllen, dann habe ich Probleme, mich als Deutscher zu fühlen.

Nun gibt es Nationalismus ja auch anderswo, aber wenn Donald Trump in Amerika mit seinem „America first“ die Massen fesselt, dann kann man das als populistisch, destruktiv, gefährlich, erbärmlich finden, je nachdem, wie weit man auf das Niveau von Trump hinuntersteigt, doch es ist etwas ganz anderes als wenn in Deutschland, dem Erben des Bösen, jemand das „Germany first“ propagiert. Nicht wahr, Frau von Storch? Ach ja, da fällt mir ein: Ist Beatrix von Storch nicht in derselben Partei wie der Vogelschiss-Alexander?

 

Leute angucken

Dass ich die derzeitige Internet-Euphorie nicht mittrage, sollte ich inzwischen hinreichend erläutert haben. Das schließt aber nicht aus, dass das Internet in bestimmten Fällen ganz nützlich sein kann. Nützlich, mehr nicht.

Beispiel: Nachdem diese Tage einige querdenkende Banausen im Reichstagsgebäude die Demokratie bespuckten, wurde ich sehr neugierig: Wer hat zugelassen, dass diese Idioten einfach so im Gebäude randalieren konnten? Klar, einige Abgeordnete der AfD, die die Typen eingeladen hatten und sich damit zu dem zerstörerischen Banausentum bekannt hatten. Die Abgeordneten sind namentlich bekannt: Udo Hemmelgarn, Petr Bystron, Hansjörg Müller.

Wie oft, wenn nur Namen im Raum stehen, die Personen dahinter noch unbekannt sind, möchte man in die Gesichter der Leute schauen. So auch ich. Und jetzt bewährte sich das Internet, mit dessen Hilfe ich mir einen guten Eindruck von diesen drei Typen verschaffen konnte, auch von den platten, maroden Auffassungen, denen sie folgen. Ausgesprochen widerlich und streckenweise auch gefährlich. Namen und Gesichter, die sich mir einprägen werden.

Eine Anmerkung noch zu den „Querdenkern“, aus deren Reihen die AfD-Strategen ihre Störenfriede rekrutierten. Querdenken an sich finde ich toll, es ist die Voraussetzung für eine lebendige Debatten- und Oppositionskultur. Aber was diese Chaotentruppe, die den Begriff für sich instrumentalisiert hat, vertritt, ist so blöd, dass man deren Gedankengänge im Grunde nicht verstehen kann. Natürlich sind die Masenkenpflicht und andere Maßnahmen ein Eingriff in die Grundrechte. Auch ich finde die Masken zum Kotzen. Aber sie sind notwendig. Und wenn wir schon bei den Grundrechten sind: Warum, zum Beispiel, wehren sich die Querdenker nicht gegen die Vorschrift, rechts fahren zu müssen? Ist doch eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit, oder? Das nur als eines von 1000 denkbaren Beispielen, die die ganze Absurdität der Querdenker und die destruktiven Absichten der einladenden Abgeodneten demonstrieren können.

Rückgrat gefragt

Europa – hat die Menschheit in ihrer Geschichte jemals etwas Großartigeres zustande gebracht? Ich denke, nein, und doch steht Europa auf der Kippe, denn es ist schlecht konstruiert. Ausgesprochen miserabel konstruiert. Was nützt die tollste Idee, wenn es keine wirksamen Instrumente gibt, sie umzusetzen. Eine der absoluten Schwachpunkte in dem Staatenkonstrukt ist das Vetorecht, das jedem Strörenfried erlaubt, mit einer einzigen Stimme alles kaputt zu machen, während für die Durchsetzung von vernünftigen Plänen die Zustimmung aller erforderlich ist. Nichts ist absurder als das Vetorecht, wobei es die Planer von Europa hätten wissen müssen. Schließlich hatten sie das negative Vorbild des UNO-Sicherheitsrates vor Augen.

Nun haben wir den Salat. Zwei Staaten, nämlich Polen und Ungarn, legen ihr Veto gegen den Corona-Rettungsmechanismus und den europäischen Haushalt ein. Und weshalb? Weil sie ihr Recht auf einen Unrechtsstaat sichern wollen. Man kann es auch so sagen: weil sie zwar von Europa profitieren wollen, aber nicht bereit sind, sich den Werten Europas zu bekennen. Geht’s noch widerlicher?

Aber es gibt bereits wieder Stimmen, die nach Angela Merkel rufen, die ihr Talent zum Kompromisseschließen in Anspruch nehmen wollen, damit die Protagonisten in Ungarn und Polen vielleicht, wenn man hübsch bittet und einige Zugeständnisse macht, doch noch bereit sind …

In aller Deutlichkeit: So grundlegende und wichtige Werte wie die Rechtsstaatlichkeit aller Mitgliedsstaaten dürfen niemals einem Kompromiss untergeordnet werden. Nicht mal andeutungsweise. Und wenn die beiden um Legitimation von Unrecht bemühten Länder den Haushalt blockieren, dann muss Europa das hinnehmen und sich um Lösungen bemühen, die nicht in den Scheiß-alle-Stimmen-Mechanismus fallen. Was spricht dagegen, wenn die bessergestellten Staaten sich auf Solidarität besinnen und den arg durchgeschüttelten Staaten im Süden unter die Arme greifen? Man muss ja nicht unbedingt Hilfsgelder nach Warschau oder Budapest überweisen. Jenseits der schlecht konstruierten offiziellen Strukturen gibt es noch ein Europa der unbürokratischen Solidarität. Man muss es nur sehen.

Somit ist von Frau Merkel nun Rückgrat gefragt, nicht ihre Kompromissfähigkeit. Und alle Verantwortlichen tun gut daran, sich folgendes vor Augen zu führen: Europa geht nicht zugrunde, wenn es mal im Haushalt hakt. Doch ohne konsequente Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit wird Europa auseinanderfallen, weil das Rückgrat morsch wird.

Endlich weiß ich, warum …

… wir in dieser furchtbaren Misere stecken. Dabei ist die Ursache doch eindeutig auszumachen: Wir digitalisieren nicht gründlich und vor allem nicht schnell genug. Jeder Mensch weiß doch, wie überlebenswichtig die Vernetzung von allem und jedem ist, und es gibt auch genügend Leute, die lautstark und unermüdlich darauf hinweisen. Der Lindner zum Beispiel. Kaum ein Statement, in dem nicht das Wort „Digitalisierung“ vorkommt. Andere Politiker reden vielleicht nicht so oft davon, aber nicht minder eindringlich. Und die wissenden Medien erst mal.

Also, Deutschland, das sich zunehmend als digitales Entwicklungsland darstellt, kann sich nicht mit Unwissenheit rausreden. Vielleicht mit Unfähigkeit? Egal, jedenfalls liefert die zu schwache Digitalisierung die Antwort auf einige quälende Fragen. Zum Beispiel auf die Frage, warum wir in technischer Hinsicht überhaupt nichts zu bieten haben. Ja, ein paar Autos, die eher ins letzte Jahrhundert passen, aber sonst? Keiner will so richtig die in Deutschland hergestellten Klamotten kaufen. Klar, kann ja auch nicht anders sein, bei derartigen Rückständen in der Digitalisierung. Da bringt man nichts Vernünftiges zustande. Wer kauft denn noch Waren aus Deutschland?

Und dann die mangelhaften Schulerfolge. Kann ja auch nichts werden bei einer pädgogischen Grundeinstellung, die seit jeher mit technischen Innovationen fremdelt. Nix mit einer einer vernünfigen digitalen Pädagogik; stattdessen klammert man sich an eine uralt-analoge Blickkontaktpädagogik, mit Lerngruppen und sowas. Ohne Digitalisierung wird demnächst kein Mensch mehr 2 und 2 zusammenzählen können. Äußerst gefährlich!

Und dann das verheerende Gesundheitswesen. Zu den schlecht bezahlten Pflegekräften gesellt sich vor allem eine miserable gesundheitliche Infrastruktur. Längst schon sollte die Gesundheitskarte und damit die digitale Vernetzung aller Patienten Standard sein. Dann hätten wir auch nicht die unerträglich hohen Todesraten und den miserablen allgemeinen Gesundheitszustand im Lande. Aus dem Ausland traut sich ja kein Mensch mehr ins Land, aus Angst vor Siechtum und schlechter Versorgung. Wie toll wäre doch unser Gesundheitssystem, wenn wir rechtzeitig und gründlicher digitalisiert hätten.

Und nicht zu schweigen, wenn es um Verbrechensbekämpfung geht. Langfinger, Clans und messerschwingende Mordgesellen toben sich in Deutschland aus, und zwar warum? Klar doch, weil wir zu wenig digitale Kontrollmechanismen installiert haben. Die Polizei fordert’s doch ständig. Und so dürfen wir uns nicht wundern, wenn überalll übelriechende Leichen im Weg liegen. Tja, und wenn wir digital aufrüsten würden, dann bekämen wir höchstwahrscheinlich auch das Übel des wuchernden Kindesmissbrauchs in den Griff.

Usw. Die bessere Welt liegt doch so greifbar nahe vor uns, wir müssen nur den entscheidenden Schritt tun. Stopfen wir, um den Anfang zu machen, endlich die Glasfaserlücke zwischen Schulze-Brömmelkamp und der Milchkanne vom Schultenhein. Beenden wir das unwürdige Siechtum der Menschen, die in diesem Loch vegetieren müssen.

Immer dabei

Gemeint ist das Smartphone als ständiger Begleiter des Menschen. So jedenfalls sieht es unsere Sparkasse, wenn sie auf der Internetseite für das bargeldlose Bezahlen mit dem Smartphone wirbt. Scheinen gut beobachtet zu haben, die Macher in den Sparkassen-Chefetagen.

Nur mich haben sie wohl übersehen. Kein Wunder, ich bin ja ein komischer Kauz von wahrlich untergeordneter Bedeutung, wirklich leicht zu übersehen. Jedenfalls habe ich mein Smartphone nicht ständig dabei, eigentlich nur selten. Vielleicht liegt’s daran, dass ich das Smartphone nicht als ständigen Begleiter des Menschen betrachte, sondern den Menschen als ständigen Begleiter des Smartphones. Denn das Smartphone gibt für die meisten Bürger den Lebenstakt an und sagt dem Benutzer, wo es langzugehen hat. Und da ich nicht nur unscheinbar bin, sondern außerdem noch störrisch, muss ich selbst überlegen, wohin ich meine Füße stelle, auch wenn’s nach heutige Maßstäben nicht sehr komfortabel ist. Aber es ist die wohltuende Freiheit eines kleinen, unbeachteten Mitbürgers.

Das Smartphone hat seine(n) Benutzer(in) immer dabei. Mich nicht, weil ich mein Smartphone nicht immer bei mir habe. Wohltuende Trennung, und so einfach.

Aufbruch

Seit Jahrhunderten war die Menschheit von einer tiefen, sehnsuchtsvollen Hoffnung erfüllt: Irgendwann werden die Menschen etwas auf die Beine stellen, mit dem alle Unzulänglichkeiten überwunden, alle Probleme gelöst, alle Schwächen behoben werden. Wie sich dieses Paradies darstellen würde, wusste man noch nicht, nur dass die Lösung technischer Natur sein würde, ahnte man schon seit langem.

Dann, zehn Jahre vor der Jahrtausendwende, war es auf einmal so weit: Das Heil kam in die Welt, und zwar in Form des Internets. Man spürte sofort, dass dieses Netz das Potential hat, in den letzten Winkeln aller Lebensbereiche für Ordnung zu sorgen. Die gesamte Welt würde in wenigen Jahren eine völlig andere sein, eine bessere natürlich, war man sich schnell einig. „We’ll make the world a better place“, dieser Slogan eines globalen Internetkonzerns steht für den Elan des allgemeinen Aufbruchs.

Doch von diesem Schwung wurden nicht alle gleichermaßen erfasst. In Deutschland zum Beispiel war man eher zurückhaltend eingestellt und verlor innerhalb weniger Jahre den Anschluss an die Innovations-Weltspitze. Immer wieder wiesen namhafte Vertreter in Wissenschaft und Wirtschaft darauf hin, dass Deutschland zu einem digitalen Entwicklungsland verkomme, zu einem Land der verpassten Chancen. Amerika, China und selbst das kleine Estland seien schon viel weiter und man müsse sich endlich anstrengen, die Rückstände aufzuholen.

In der Tat. Nehmen wir das kleine Estland. Es sitzt oben auf dem digitalen Gipfel und schaut mitleidig auf Deutschland herab. Die Botschaft, die das baltische Ländchen sendet: Wir hatten unter der Sowjetunion unsere Identität verloren und konnten uns auf digitalem Wege eine neue Indentität aufbauen, eine digitale sozusagen. Einfach nachmachen, ihr in Deutschland seid doch in einer vergleichbaren Situation. Oder Amerika, das ebenfalls mit einer Botschaft daherkommt: In unserer Verfassung stehen zwei schwergewichtige Begriffe, nämlich Freiheit und das Recht auf Streben nach Glück. Well, „Glück“ ist bei uns nicht so geläufig, aber „Money“ bedeutet dasselbe. Rechnet mal nach, in welchen Konzernen inzwischen das meiste „Glück“ angehäuft ist.

Und China? Man zuckt noch ein wenig zurück, wenn es gilt, die Botschaft aufzunehmen, doch in Wirklichkeit hat man sie durchaus verstanden: Macht aus euren Bürgern einfach bessere Menschen, indem ihr sie digital zum Wohlverhalten erzieht, permanent, alle. Einfach die Leute beobachten, in einem vernetzten (= digitalisierten) Land ist das problemlos möglich.

Auch wenn man in Deutschland nun – verspätet – kapiert, wohin die Reise gehen muss, so fallen einem die nationalen Versäumnisse der ersten Umbruchsjahre schwer auf die Füße. Nehmen wir die Schulen. Warum, zum Henker, haben wir nicht schon vor 20 Jahren erkannt, dass wir absolut nichts von der Digitalisierung ausnehmen können und dürfen? Es war doch von Anfang an abzusehen, welches Potential das Internet auch im Bildungssystem hat, oder? Wir mussten doch erkennen, dass die Digitalisierung im Falle einer etwaigen Pandemie das Bildungssystem aufrechterhalten kann und sogar einen Beitrag zur Chancengleichheit leistet. War es Kurzsichtigkeit oder Ignoranz, dass man diese absehbaren Chancen der Digitalisierung verpasste? Klar, nun trat sie ein, die Pandemie, und was man auf die Schnelle in die Notsituation hineindigitalisierte, war nicht besonders ertragreich. Ach nee, nicht der Rede wert. Triumphgeheul der Wissenden: Sehr ihr, nun habt ihr den Salat! Corona offenbart schonungslos unsere Schwächen. Vielleicht hat der liebe Gott Corona in die Welt gesandt, um den Menschen deutlich zu machen, wie lebensnotwendig die Digitalisierung ist. Nostra culpa.

Was jedoch noch ein wenig irritiert, ist die Einstellung der Lehrer, auch angesichts der Digitalmangelerscheinungen in den Schulen. Politiker, Journalisten (vor allem), Wissenschaftler, Elternvertreter, Bildungsverbände – sie alle fordern vehement die Digitalisierung des Bildungssystems. Nur diejenigen, die täglich mit Schülern zu tun haben, nämlich die Lehrer, schließen sich nur zögerlich den allgemeinen Forderungen an. Das ist schlimm, und natürlich muss man die Frage nach den Gründen stellen. Sind viele Lehrer zu weltfremd, dass sie die Zeichen der Zeit nicht sehen? Oder fehlt es ihnen an Empathie, so dass sie nicht bereit sind, das Beste für ihre Schüler anzustreben? Oder sind sie zu starr bzw. zu wenig lernfähig, um sich noch mit den neuen Technologieren auseinanderzusetzen? Einfach zu dumm für die Digitalisierung?

Doch wie ich eingangs bereits erwähnte, ist die Digitalisierung die Lösung für alles. auch für eine Schulwelt mit ignoranten oder dummen Lehrern. Algorithmen, die Arbeiter und Angestellten im Netz, können’s bekanntlich besser, und die digitale Bildungslandschaft von morgen braucht womöglich keine Lehrer mehr. Weg mit ungeeignetem Personal, so wie es an anderen Stellen bereits mit Erfolg praktiziert wird.

 

Warum ich die Corona-App nicht installiere

Die Antwort ist zunächst einfach: Weil ich nicht ständig mein Smartphone mit mir rumschleppe. Genauer gesagt: Ich benutze das Teil selten, eigentlich nur im Notfall als Telefon oder wenn ich unterwegs in einem E-Buch lesen will. Gelegentlich auch als Kamera, wenn ich die richtige Kamera nicht dabei habe. Ansonsten liegt das Ding irgendwo im Haus herum, manchmal tagelang unbenutzt.

Da schließt sich gleich die zweite Frage an: Warum benutze ich das Smartphone so selten, und was habe ich gegen dieses an und für sich doch phaszinierende Stück Technik? Ist es die Tatsache, dass es so total unergonomisch gebaut ist und mir immer aus der Hand rutscht? Kann man üben, nicht so entscheidend. Oder ist es die matschige Pseudo-Analogtechnik, mit der man seine Fingerabdrücke auf die Fummelscheibe drückt, oft an der falschen Stelle (bei mir jedenfalls)? Ach nee, kein wirklicher Grund, das Smartphone zu meiden. Selbst die unlogische Struktur des Betriebssystems Android ist eher eine Gewöhnungsache und letztlich kaum ein Grund, ohne Smartphone durch die Gegend zu gehen. Mitunter kann man ja ganz gut mit dem Mangel leben, wozu auch der Mangel an Logik im Betriebssystem Android gehört.

Etwas anders verhält es sich mit der Art und Weise, wie das Smartphone die Menschen verändert, und zwar fast durchweg zu ihrem Nachteil. Wenn ich durch die Stadt bummel und die vielen – meist jungen – Gestalten sehe, die entweder auf ihr Smartphone starren oder es permanent in der Hand tragen, mit etwa 40° abgewinkelter Hand, dann fällt es mir oft schwer, die Gesichter zu ertragen. Diesen starren, abwesenden Blick, diesen abweisenden Gesichtsausdruck, der ein totales Desinteresse an der Umgebung verrät. Abgetaucht in die vernetzte Parallelwelt. Schon schlimmer.

In Wirklichkeit ist es noch was anderes, was mein Verhältnis zum smarten Phone nachhaltig stört. Das Smartphone ist das Gerät, mit welchem sich die Menschen permanent und widerstandslos in das Netz einfügen, egal wo sie sich gerade befinden. Das mobile Internet, das erst durch das Smartphone ermöglicht wird, verfolgt die Menschen auf Schritt und Tritt und steuert sie, ohne dass sie es bemerken. Um zu verstehen, was da alles abläuft, muss man sich erst mal verdeutlichen, was das Internet in unserer Welt darstellt. Dabei geht es nicht um die Funktionsweise des Netzes, um die verschiedenen Protokolle, die den Datenverkehr steuern. Um das Internet zu erklären, erfolgt oft ein Rückblick auf die Anfänge des Internets (als es noch gar nicht so hieß). Auch darauf will ich verzichten. Ohne auf die Einzelheiten einzugehen, will ich hier nur die Erwartungen und Ziele nennen, die man anfänglich mit dem Netz verband, und die heute immer noch irrtümlicherweise mit dem Internet verknüpft werden.

  • Das Netz arbeitet dezentral, also ohne einen steuernden Mittelpunkt.
  • Ohne feste Hierarchie gibt es keine Bevorzugungen und Benachteiligungen. Jeder Nutzer des Netzes ist gleichberechtigt.
  • Jeder kann sich im Netz äußern. Somit gewährleistet das Netz es ein hohes Maß an Meinungsfreiheit und hat eine erhebliche demokratische Relevanz.

Das sind natürlich extrem hohe Erwartungen, und rein technisch gesehen gab und gibt es keine Zweifel, dass sie erfüllt werden können. Wie gesagt, rein technisch, aber das Internet ist mehr als ein Leitungsnetz mit Routern und einem Bündel von Protokollen; das Internet steht in enger Wechselbeziehung zur Gesellschaft mit all ihren Triebkräften. Das wurde am Anfang offenbar übersehen oder zu gering eingeschätzt; jedenfalls hat das Internet, wie es sich heute darstellt, kaum noch etwas (eigentlich gar nichts mehr) mit den ursprünglichen Erwartungen zu tun.

Die reale Welt

Schauen wir uns zuächst mal die Welt an, wie sie sich ohne Internet darstellt. Dabei habe ich die Zeit vor Beginn der „Digitalisierung“ im Auge, etwa die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Manchen fällt dabei sofort das Prädikat „analog“ ein, aber es gibt keine analoge Welt, es gibt auch keine digitale Welt. Diese beiden Begriffe beschreiben lediglich die Verfahren, mit denen Informationen erfasst, codiert, transportiert, analysiert und angezeigt werden. In diesem Sinne ist natürlich auch der Begriff „Digitalisierung“, wenn damit die Internet-Vernetzung gemeint ist, ziemlich fehl am Platze. Das aber nur am Rande.

Also die reale Welt. Sie wird bevölkert von unzählig vielen Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen aller Art, die alle eines gemeinsam haben: sie sind real. Und sie interagieren miteinander. Sofern es sich um konkrete Dinge oder Lebewesen handelt, sind die Interaktionen an physikalische Gesetze gebunden. Daraus ergibt sich eine gewisse Schwerfälligkeit, die in einer Gesellschaft, die nach immer schneller, immer weiter, immer effektiver giert, nur schwer zu ertragen ist. Genau genommen sind es weniger die Menschen als vielmehr die Wirtschaft und die sich als Weltretter verstehende Wissenschaft, die als treibende Kräfte in Erscheinung treten. Und im Gefolge davon natürlich die Politik. So ist es nur verständlich, dass sich seit dem Entstehen des Internets Anfang der 90er Jahre die Erwartungen ganz auf das Netz stützen.

Doch die unvermeidliche Schwerfälligkeit in der realen Welt hat auch ihre Vorteile. Die gebremst ablaufenden Interaktionen wirken stabilisierend. Wenn es sich abzeichnet, dass etwas aus dem Ruder zu laufen droht, kann man in der Regel noch weitgehend gegensteuern. Gefahren und Fehlentwicklungen lassen sich noch im Auge behalten. Dort, wo die Schwerfälligkeit mehr oder weniger überwunden werden kann, etwa im Radio- und Fernsehbereich, gibt es strikte journalistische Regeln. Auch im Papier-Journalismus, der ja eine beachtliche Reichweite hat, gibt es z.B. die Verpflichtung, ein Impressum hinzuzufügen oder auch die Pflicht, eine versehentlich falsche Information durch eine Gegendarstellung zurechtzurücken.

Auch wenn das Internet in den 90er Jahren noch keine oder allenfalls eine eher nebensächliche Rolle spielte, so war die Digitalisierung dennoch bereits voll im Gange. Mikrocontroller und Roboter sorgten in den Produktionshallen dafür, dass die meisten Vorgäge programmgesteuert abliefen. Die Medizintechnik hatte bereits einen hohen Standard erreicht – natürlich digital gesteuert (noch einmal: digital heißt nicht vernetzt!). In den Büros wurden innerhalb weniger Jahre die Schreibmaschinen durch PCs ersetzt, und selbst das mobile Telefon erlaubte einen effektiven Telefonverkehr. Im Haushalt gab es praktisch für alles eine bequeme, komfortable Lösung, ohne vernetzt zu sein. Die Digitalfotografie war drauf und dran, die komplette bisherige Fototechnik zu entsorgen. Doch die entscheidenden Hebel hielten die Menschen noch in der Hand, selbst wenn sie das Internet, das sich noch in einem frühen Entwicklungsstand befand, benutzten. Im Grunde waren die 90er Jahre also eine Zeit, die bei den Menschen kaum einen Wunsch offen ließ. Dennoch zeichnetetn sich schon hohe Erwartungen an das sich entwickelnde Internet ab. Fast euphorisch war die Rede von dem „Highway of Information“.

Die vernetzte Parallelwelt

Und nun das Internet. Obwohl fast alle Instanzen der realen Welt auf irgendeine Weise mit dem Internet verknüft sind, ist diese weltumspannende Netz auch weitgehend unabhängig. Es ist mächtiger als die reale Welt, denn es unterliegt nicht den natürlichen Restriktionen. Im Netz gibt es keine Schwerfälligkeiten oder Reichweitebegrenzungen und immer weniger auch Einschränkungen bezüglich der Bandbreite. Nahezu jede Stelle der Welt ist von nahezu jedem Ort aus erreichbar, und das quasi mit Lichtgeschwindigkeit, also schwerelos.

Diese Schwerelosigkeit, diese üppigen Optionen, fast nach Belieben mit Datensätzen umzugehen, verleiten dazu, so viel wie möglich ins Internet zu verlegen. Die Cloud ist ein typisches Beispiel: wichtige Organisationsstrukturen sind von überall auf der Welt im Netz errechbar; es kann eine wichtige Bremse umgangen werden, nämlich die Verpflichtung, an Ort und Stelle sein zu müssen. Für mich ist „cloud“ allerdings eine ungünstige Bezeichnung, denn sie siedelt das Netz zu hoch in himmlischen Sphären an. Ich finde es passender, das Internet – bildlich – unter der Erdoberfläche anzusiedeln, dort wo in der realen Welt die Glasfaserkabel liegen – aber auch die Kanalisationsrohre für Schmutzwasser. Wenn man die extreme Verseuchung des Netzes mit Kriminalität, gefährlichen Zusammenrottungen oder sexuellem Schmutz in Betracht zieht, dann denkt man eher an „Unterwelt“ als an hehre Lichtgesänge. Wie gesagt, das Netz hat zwar intensive Bezüge zur realen Welt, ist aber auch frei von den Regeln der realen Welt.

Was kaum beachtet wird: Das Internet ist nicht nur mächtiger als die reale Welt, sondern die Verbindungen zwischen den beiden Welten werden immer stärker vom Netz aus gesteuert. Das Netz ist der aktivere Part; in der realen Welt wird immer mehr nur reagiert. Die Erkenntnis, dass Algorithmen es besser können als Menschen, wird achselzuckend oder gar offensiv als Leitfaden des realen Lebens akzeptiert. Das Netz arbeitet mit Daten, also füttert man es mit Daten. Besser gesagt: Das Netz saugt die Daten aus der realen Welt, auch solche, die von den betroffenen Menschen nur ungern geliefert werden, etwa weil sie zur Privatsphäre gehören. Der Datenverkehr muss nicht von den Menschen aktiv angestoßen werden, sondern sie haben allenfalls die Möglichkeit, einen voreingestellten Datensog zu verhindern – sofern sie sich auskennen und bereit sind, auf gewisse Bequemlichkeiten zu verzichten.

Aber auch die umgekehrte Richtung: Das, was aus dem Netz in die reale Welt zurückkommt, wird weitgehend vom Internet kontrolliert, und zwar so, dass die Menschen oben auf der Erde überhaupt nicht erkennen, was ihnen alles so untergeschoben wird. Ihr Kaufverhalten wird ebenso manipuliert wie ihr Kommunikationsverhalten. Informationen, auf denen Meinungsbildungen und Entscheidungen beruhen, sind zum großen Teil algorithmisch gefiltert. Das meiste, was aus dem Internet hochkommt, wirkt perfekt und stößt deshalb auf bedingungslose, ja geradezu blinde Akzeptanz. Die Zeiten sind inzwischen vorbei, wo Menschen das Internet formen konnten; es ist umgekehrt: Das Netz formt die Menschen, die sich blind oder bereitwillig unterordnen. In seinem Buch „Das digitale Debakel“ äußert der Insider Andrew Keen an mehreren Stellen die These „Zuerst formt der Mensch das Werkzeug, dann formt das Werkzeug den Menschen“.

Nun ist das Internet ja nicht von selbst so entstanden, wie es sich derzeit darstellt. Doch wer hat nun das Internet geformt? Bestimmt nicht die Idealisten, die im Netz die demokratische, freie Infomationszukunft erblickten. Bestimmt nicht jene, die sich vom Netz haben einfangen lassen und das Geplärre in den sozialen Medien zum Lebensinhalt deklarieren. Bestimmt nicht die Wirtschaftsvertreter und Politiker, die aus Schiss, die Medaillenränge zu verpassen, den Kragen hochstellen und sich in den Mainstream eingliedern. Jene Mahner, die die „digitale Transformation“ vorantreiben wollen – so oder so, Hauptsache schnell. Nein, das Internet wurde (und wird immer noch) von denjenigen geformt, die das Netz als große Chance nutzen, gigantische Geldgewinne anzuhäufen und damit auch Macht. Das machtvolle, chaotische und immer noch weitgehend rechtsfreie Internet hat etwas hervorgebracht, was in der realen Welt mit seinen behäbigen Mechanismen noch zu begrenzen war, nämlich einen golbalen, knallharten Monopolismus. Es sind nur wenige Firmen, die übers Netz die Welt beherrschen. Die Namen brauche ich nicht zu erwähnen; einfach mal mit Google Earth in die Gegend südlich von San Francisco eintauchen. In der weitläufigen Talmulde findet man die Prachtresidenzen der meisten digitalen Weltbeherrscher.

Nein, nein, von den hehren Zielen hat sich das Netz um 180° abgedreht. Nichts ist mehr vorhanden von dem freien, demokratischen Medium. Nichts mehr. Ein Dutzend profit- und machtgeile Protagonisten, eine Milliardenschar von buckelnden, mit dem Smartphone verwachsenen Menschen, die sich gerne auf Schritt und Tritt überwachen lassen. Es ist ja soo komfortabel und soo bequem.

Zum Schluss möchte ich ein Spiel beschreiben, dass meines Erachtens ganz meine Assoziationen mit dem Internet widerspiegelt. Auf einem Spielfeld lassen sich Figuren dadurch bewegen, dass man der Seite her einen Stock mit einem Magneten und das Spielfeld schiebt. Willenlos, unterirdisch wie von Geisterhand gesteuert, lassen sich die Männekes durch die Gegend schieben. Genauso kommen mir die ans Smartphone geketteten Leute vor. Deshalb bleibt mein Smartdingsbums fast immer zu Hause, irgendwo, in irgendeinem Regal oder Schrank. Meistens muss ich es suchen. Und wenn ich es nicht finde? Dann überlebe ich mit einem Achselzucken; andere Leute werden bei solchen Gelegenheiten wahrscheinlich in eine tiefe Krise gestürzt. Freiheit ist für mich nicht die eingebildete Freiheit im Netz, sondern die Freiheit vom Netz. Genauer gesagt, vom mobilen Netz, wo man als Datensatz wie ein beringter Vogel unterwegs ist.

Schlusswort zur künstlichen Intelligenz

Der Titel dieses Beitrags mag irritieren. Er klingt so, als könnte man das Kapitel abschließen, was natürlich nicht der Fall ist. Künstliche Intelligenz ist die Zukunft schlechthin, jedenfalls wenn man einigen Politikern, den meisten Wirtschaftsvertretern, sehr vielen Wissenschaftlern und allen Zukunftsforschern folgt. Nein, es geht hier um meine persönliche Einstellung, und die wird sich nicht mehr ändern, auch wenn sie nicht mit den landläufigen Haltungen zur KI übereinstimmt. Es wäre sinnlos, hier noch etwas bewegen zu wollen, und deshalb kann es nur noch darum gehen, meine eigene Meinung noch einmal deutlich herauszustellen. Dann kann ich beruhigt die Mappe zuklappen und das weitere Geschehen von der Seitenlinie aus verfolgen. Hat auch was.

Ich beginne mit einer Frage: Was hebt eigentlich den Menschen von der tierischen und pflanzlichen Lebewelt ab? Oder, anders formuliert: Was befähigt den Menschen, den Planeten Erde mitsamt der Tier- und Pflanzenwelt weitgehend zu beherrschen – oder auch völlig zu zerstören? Körperliche Merkmale sind es ganz bestimmt nicht, denn in allen Belangen gibt es Tiere, die uns ebenbürtig oder überlegen sind. Auch die Standfestigkeit einer Eiche oder die Biegsamkeit eines Getreidehalms wird der Mensch nicht annähernd erreichen können.

Was also verschafft uns die Überlegenheit? Nun, wir Menschen können denken, wir sind mit überlegener Intelligenz ausgestattet. Man könnte sagen, dass die Intelligenz das typische Charakteristikum, ja sogar das Alleinstellungsmerkmal der Menschen ist. Auch hier gibt es natürlich partielle Leistungen, wo uns Tiere übertreffen: so verfügt zum Beispiel ein Elefant über ein enormes Gedächtnis. Genau wissen wir es allerdings nicht, denn außer experimentellen Beobachtungen und dem Wiegen von Gehirnmassen haben wir keinen Zugang zu derartigen tierischen Leistungen.

Beim Menschen ist es die Gesamtheit der intelligenten Leistungen, die ihn zum Beherrscher des Planeten machen. Intelligenz, die außerdem noch in einem historisch gewachsenen und sozial lebendigen Umfeld weiterentwickelt, gepflegt und trainiert werden muss. Gerade dieses Umfeld ist wichtig; es steht in einer engen Wechselbeziehung zur persönlichen Intelligenzentwicklung. Was genau nun unter Intelligenz zu verstehen ist, lässt sich kaum exakt beschreiben, dazu sind die Zusammenhänge zu komplex. Wenn ein Psychologe lapidar feststellt, Intelligenz sei das, was der Intelligenztest misst, dann ist das überaus bezeichnend.

Ein ziemlich komplexes Gebilde also, diese Intelligenz, und trotzdem weiß praktisch jeder, was es bedeutet, intelligent zu sein. Intelligenz ist definitiv ein besonders hervorstechendes Merkmal der Menschen. Wenn man trotzdem auch Tieren eine gewisse Intelligenz zuschreibt oder sogar auf den verwegenen Gedanken kommt, technische Geräte und technisch gesteuerte Abläufe als „intelligent“ zu bezeichnen, dann gibt es dafür eine Reihe von Erklärungen, auf die ich hier aber nicht näher eingehen will. Nur eine kleine Auflistung, was den Transport des Intelligenzbegriffes in die allgemein-biologischen, sozialen oder technischen Strukturen ermöglicht bzw. begünstigt hat:

  • Das Bestreben von Wissenschaftlern, insbesondere Gehirnforschern, den Gesamtkomplex „Intelligenz“ in Teilbereiche und Teilaspekte aufzubröseln,
  • die Verallgemeinerungen und Abstrahierungen während der Blütezeit der Kybernetik,
  • die Schaffung des Informationsbegriffs in den 40er Jahren,
  • die Reduzierung von Lebenserscheinungen auf biologische Zusammenhänge seitens der Evolutionsforscher – der Mensch als einer von mehreren verschiedenen Primaten,
  • die geschäfts- und gewinnfördernde Wirkung des Attributes „intelligent“,
  • ein stark ausgeprägtes und hoch gewichtetes Selbstverständnis in Kreisen der Informationstechniker, das durch die KI-Entwicklung enorme Auftriebe erhalten hat,
  • eine in der Gesellschaft verankerte, bewundernde Haltung gegenüber allem, was als „intelligent“ bezeichnet wird, hervorgerufen durch die Überlegenheit von Menschen, die als besonders intelligent in Erscheinung treten – oder Intelligenz vortäuschen können.

Die Folgen der Ausweitung des Lern- und Intelligenzbegriffs, verbunden mit einer unumgänglichen Verflachung, sind allerorten zu sehen. Wir sind rundherum von intelligenten Dingen umgeben. Hier nur einige Beispiele aus einer Liste, die sich quasi beliebig verlängern ließe:

  • Schweine sind intelligent, sehr sogar, wie Biologen und Tierschützer immer wieder anmerken.
  • Kochtöpfe sind intelligent, vor allem wenn Bosch sie produziert.
  • Bienen sind intelligent; erstaunlich, wie die miteinander kommunizieren.
  • Mülleimer werden intelligent, ein wichtiges Ziel, um die Menschheit auf ein konformes, nachhaltiges Entsorgungsverhalten zu erziehen.
  • Menschen sind intelligent, ein bisschen wahrscheinlich auch noch nach abgeschlossener Digitalisierung, wenn das Denktraining entfallen wird.
  • Rasenmähroboter sind intelligent, klar. Au ja, anschauliche Prototypen von mit KI ausgestatteten Geräten.
  • Stromzähler werden intelligent, um a) die Stromzufuhr energiesparend zu regulieren und b) das Verbraucherverhalten sanktionsfähig zu steuern.
  • Usw., wie gesagt eine endlose Liste.

Zugegeben, die Auswahl der Beispiele sowie deren Reihenfolge ist nicht zufällig. So lässt sich nun die Frage formulieren: Was haben Mülleimer und Menschen gemeinsam? Richtig, sie verfügen beide über Intelligenz, was übrigens wohl die einzige Gemeinsamkeit sein dürfte. Intelligenz, das herausragende Merkmal von Menschen, nun als gemeinsames Merkmal von Menschen und Mülleimern.

Ich denke, spätestens jetzt sollte deutlich geworden sein, dass ich die Verwendung des Begriffs der „künstlichen Intelligenz“ (ab jetzt wieder mit Gänsefüßchen) als überaus zynisch empfinde. Und brandgefährlich, weil daran Erwartungen geknüpft werden, die bestenfalls nur schlecht erfüllt werden können, schlimmstenfalls in einer Katastrophe enden können. Mülleimer, die gestaltend und kontrollierend in die Lebensverhältnisse von Menschen eindringen, da fängt man an zu frösteln. Die Gänsehaut verschwindet auch nicht, wenn man daran denkt, dass die Mülleimer selbst wieder gelenkt sind, von den Vertretern eine menschlichen Machtimperiums, das man getrost als „Großen Bruder“ bezeichnen kann.

Nun ganz ohne Ironie und Sarkasmus. Ja, ich gebe zu, ich könnte all die KI-Schwärmer auf den Mond schießen, vor allem, wenn sie nicht mal programmieren können, also von Algorithmik und deren Grenzen (und Gefahren) keine Ahnung haben. Ja, ich bin wütend auf diese Leute, aber nicht, weil ich Angst vor der „künstlichen Intelligenz“ habe, sondern wegen ihrer Einstellung. Die „künstliche Intelligenz“ an sich kann zwar vieles verbessern oder kaputtmachen, ist aber keineswegs besorgniserregend, und zwar aus einem einfachen Grund. Es gibt sie im Grunde gar nicht! Für mich ist intelligentes Handeln immer (!) mit Einsicht verbunden. Einsicht, die nicht nur gesteckte Ziele aufzeigt, sondern stets in die Lage versetzt, Handlungsziele in Frage zu stellen und ggfs. zu ändern.

Da sind Mülleimer und selbst Supercomputer recht amselige Protagonisten. Sie können so agieren, als seien sie intelligent, aber sie sind es nicht. Nee, künstliche Intelligenz ist kein Grund zu Besorgnis, wohl aber die Leute, die alles Mögliche mit KI machen wollen. Das meiste ist natürlich eher harmlos: Wenn der Mähroboter mal die falschen Schlüsse zieht, dann kann ich ihn immer noch anheben und auf die richtige Spur bringen. Oder in die Garagenecke verbannen. Oder in den Container für Elektromüll werfen. Richtig: Intelligenz wird entsorgt.

Natürlich sind die Schwächen der „künstlichen Intelligenz“ auch den KI-Forschern bewusst, aber um sich nicht ganz von dem geliebten Begriff trennen zu müssen, hat man die sogenannte „schwache künstliche Intelligenz“ definiert. Irgendwie bescheuert, doch es hat den Vorteil, dass man weiterhin mit dem PR-tauglichen Begriff „Intelligenz“ hausieren gehen kann. Übrigens: Vielleicht dämmert es auch den Experten der Szene. dass echte, also „starke KI“, wenn sie denn jemals erreichbar werden sollte, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein für die Menschheit tödliches Eigenleben entwickeln wird. Die braven, leistungsfähigen, mitdenkenden Roboter, die sich in rührender Weise für uns Menschen verantwortlich fühlen, wird es definitiv nicht geben. Die Freiheit des Denkens ist immer auch die Freiheit, Normen zu definieren oder außer Kraft zu setzen.

Nach dem bisher Gesagten könnte nun der Eindruck entstehen, dass ich nichts oder zumindest nicht viel von dem halte, was man mit „künstlicher Intelligenz“ bezeichnet. Total falsch, dieser Eindruck. Dahinter steckt nämlich eine äußerst leistungsfähige Form von Algorithmik, mit der wir in völlig neue Dimensionen der Wissenschaft und Technik vorstoßen können. Mit KI lassen sich Dinge realisieren, die bisher unmöglich waren, ja, die evtl. sogar das Überleben der Menschen auf diesem Planeten sichern können. Natürlich ist die Leistungsfähigkeit mit entsprechend großen Gefahren und einem enormen Missbrauchspotential verbunden. Aber darauf komme ich gleich noch zurück.

Was mich an der „künstlichen Intelligenz“ gewaltig stört, ist vielmehr die Bezeichnung „Intelligenz“. Ich sperre mich einfach dagegen, alles, was nur irgendwie flexibel auf irgendetwas reagiert, gleich „intelligent“ zu nennen. Intelligente Kochtöpfe, geht’s noch krasser? Die Bezeichnung „künstliche Intelligenz“ ist in sich widersprüchlich, denn Intelligenz ist ja das, was Lebenwesen, insbesondere Menschen, von der künstlich geschaffenen Technik abhebt. Technische Dinge sind Werkzeuge in der Hand von intelligenten Menschen, nicht mehr. Künstlich und Intelligenz, das passt einfach nicht zusammen. Ich denke, Technik sollte nicht in höheren Intelligenzsphären herumgeistern, und man sollte nicht von „deep learning“ schwärmen, sondern die Sache als das bezeichnen was sie ist: eine flexible Algorithmik für große, ungeordnete Datenmengen  (FAGUD). Ich werde im folgenden bei dem ungeliebten Ausdruck „künstliche Intelligenz“ bleiben, weil er sich ganz gut für ironische Anmerkungen eignet.

Die erwähnte  Widersprüchlichkeit trägt wahrscheinlich auch dazu bei, dass es zwei völlig entgegengesetzte Grundeinstellungen gegenüber der „künstlichen Intelligenz“ gibt. Die eine: „Es mag ja sein, dass gewisse Parallelen zwischen den Abläufen im Gehirn und den Strukturen der KI-Algolrithmik bestehen, aber der Unterschied ist gigantisch und wird immer in einem erheblichen Maße vorhanden sein.“ Das Attribut „künstlich“ ist nach dieser Auffassung eine deutliche Abwertung. Infolgedessen müssen wir uns hüten, uns und unsere Lebensbezüge von „künstlicher Intelligenz“ steuern zu lassen. Genau zu dieser Erkenntnis ist übrigens auch der Schöpfer des Begriffes, Joseph Weizenbaum, aufgrund seiner Studien gelangt. Er warnt eindringlich davor, mit algorithmisch gewonnenen Entscheidungen in menschliche Belange einzugreifen. Gegen diese Interpretation ist meines Erachtens nichts einzuwenden, und wenn die Allgemeinheit sich diese Interpretation zu eigen machte, könnte man mit dem Begriff KI leben.

Aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die aktuelle Auffassung von „künstlicher Intelligenz“ genau entgegengesetzt ist. „Künstlich“ wird nicht als abwertendes Attribut verstanden, sondern steht im Vordergrund der Überlegungen, angetrieben von der Erwartung, mit Technik alles lösen zu können. Die zweifellos vorhandenen technischen Erfolge begünstigen diese Erwartungshaltung, und zwar so stark, dass man glaubt, man könnte auf künstlichem Wege sowas wie „Intelligenz“ schaffen. Diese im Grunde wahnwitzige Idee hat sich bereits so sehr in den Köpfen von Technikern und Wissenschaftlern mit „Schöpfergeist“ festgesetzt, dass für kritisch-abwägende Überlegungen kaum noch Platz vorhanden ist.

Mehr noch: Die Überzeugung, dass KI die Welt zum Positiven verändern wird, hat dazu beigetragen, „Intelligenz“ als Gütesiegel auf alles Mögliche zu kleben – siehe Liste oben. Der großzügige, ja geradezu inflationäre Gebrauch des Etiketts „intelligent“ ist in allen Bereichen moderner Technik anzutreffen. Diese verbreitete Auffassung von „künstlicher Intelligenz“ ist nach meiner Meinung fatal, denn sie reißt die Schranken zwischen Mensch und Technik nieder (Stichwort: Konvergenz der Netze). Technik wird schon jetzt in menschenverachtender Weise auf Menschen losgelassen, dringt in höchst private Entscheidungsbereiche ein und präsentiert sich in einem Netzwerk, in dem Menschen wie Dinge eingebunden sind. „Künstliche Intelligenz“ kontrolliert Menschen, dabei sollte es umgekehrt sein: intelligente Menschen sollten stets (!) die Kontrolle über die Technik behalten.

Das alles könnte wesentlich sachlicher und angemessener gehandhabt werden, wenn man einen angemessenen Begriff für diese Form der Algorithmik verwenden würde. Dann würden die Erwartungshaltungen nicht so wuchern; dann würde die Leistungsfähigkeit nicht so übertrieben bewertet werden. Vor allem aber wäre es leichter, die unbedingt erforderliche Distanz einzuhalten, die unerlässlich für einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Art von Algorithmik ist.

Zum Schluss noch einige positive und negative Beispiele für die Verwendung von „künstlicher Intelligenz“. Wettervorhersagen, Tsumami-Warungen oder die Vorhersage von Erdbeben sind  gewaltige Felder für den Einsatz von flexibler Algorithmik, denn riesige Datenmengen müssen dazu verarbeitet werden, und welche Zusammenhänge bestehen, dass kann KI bestens herausfinden.

Oder die Krankheitsdiagnose in Verbindung mit möglicherweise verursachenden Faktoren. Die Erfahrung von Ärzten wird nach wie vor gefragt sein, aber KI kann wesentliche Erkenntnisse, die abseits des unmittelbaren Beobachtungsfeldes von Ärzten liegen, hinzusteuern. Erkenntnisse, die aus der Verwertung von weltweit gezielt zusammengestellten Daten resultieren, können das Gesundheitssystem zum Positiven verändern. Wichtig: Alle Daten müssen dauerhaft und zu 100% anonymisiert werden, und zwar schon direkt bei der Erhebung. Und: Die endgültige Diagnose muss in jedem Einzelfall die Sache eines Menschen sein, also des Arztes.

Oder die bedarfsorientierte Steuerung von öffentlichen Verkehrsnetzen. Auch hier wieder: Die Fahrgäste dürfen nur statistisch erfasst werden; personalisierte Fahrausweise dürfen auf keinen Fall direkt verwandt werden. Die Verkehrssteuerung ist z.B. wichtig, um mehr, aber dafür kleinere Einheiten gezielt übers Verkehrsnetz zu steuern, was wiederum ein bedeutender Schritt zur Energieeinsparung ist, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Mobilität.

Das autonome Fahren gehört übrigens nur bedingt dazu, denn ein Auto muss ja gelernt haben, sich richtig zu verhalten, bevor es auf den Verkehr losgelassen wird. Im Vorfeld, also in groß angelegten Simulationen, kann KI einen guten Beitrag leisten. Allerdings sind autonome Autos nach meinem Dafürhalten nicht zukunftsfähig, weil sie – wie die jetzigen Autos – einen miserablen Wirkungsgrad haben und weil es überaus töricht ist, Verkehrskonzepte zu entwicklen, die auf einer alten, im Grunde überholten Infrastruktur aufbauen. Es scheint im Grunde vor allem darum zu gehen, das heißgliebte Auto noch ein wenig in die Zukunft hineinzuretten. Es kommt noch hinzu, dass moderne Hightech-Autos fahrende Computer sind – datenschutzmäßig äußerst bedenklich.

Zu den negativen Anwendungen der KI gehören vor allem die biometrischen Verfahren, egal, ob es sich um Gesichtserkennung, Spracherkennung, automatische Fingerabdruckserfassung usw. handelt. Die Verfahren bieten einen geringen Sicherheitszuwachs und eine mittelmäßige Komfortsteigerung, steuern aber die Gesellschaft Stück für Stück in eine umfassende Überwachungsgesellschaft hinein. Keine Demokratie kann sich als so gefestigt betrachten, dass sie die stets wachsenden Kontrollen dauerhaft aufhalten könnte. Höchstens verzögern. Die chinesischen Zustände werden sich unweigerlich auch in den westlichen Ländern einstellen, wenn nicht ganz rigoros die „künstliche Intelligenz“ straff kanalisiert wird. Und zwar länderübergreifend.

Wenn Betriebe und Konzerne meinen, sie könnten mit „künstlicher Intelligenz“ ihre Produktivität steuern, dann ist es ihnen überlassen, das so umzusetzen, vorausgesetzt wieder, dass keine Mitarbeiter direkt in die computergesteuerten Produktionsstränge eingebunden werden. MItarbeiter gehören nicht algorithmisch überwacht, sondern müssen für Überwachungsaufgaben trainiert werden. Das Grundprinzip, das „künstliche Intelligenz“ niemals auf Menschen losgelassen werden darf, muss zu einem unumstößlichen Gesetz werden. Firmen wie Cambridge Analytica gehören vor ein Verfassungsgericht. Dass die groben Verstöße der IT-Konzerne von der Politik nicht geahndet werden, zeigt nur, was für ein laienhaftes, naives Verständnis die meisten Entscheidungsträger von der sogenannten „Digitalisierung“ haben.

Und klar, wenn die Personalabteilung die Eignung eines Bewerbers algorithmisch feststellt und das Ergebnis dann auch auf kurzem Wege akzeptiert, dannn ist das ein ganz besonders zynischer Missbrauch der „künstlichen Intelligenz“. Wenn man nicht von „künstlicher Intelligenz“ sprechen würde, sondern sachgerechter von „künstlicher Idiotie“, dann würde dieser Missbrauch schnell deutlich werden. Übrigens: Wer sich mal mit dem von J. Weizenbaum geschaffenen KI-Programm ELIZA beschäftigt hat, wird schnell erkennen, dass es sich bei den Gespsprächspartner um unterhaltsame Idioten handelt.

Natürlich gibt es auch einige besonders schrille Entgleisungen, die niemand wirklich ernst nehmen muss, die leider dennoch von einigen Leuten ernst genommen werden. So schwärmte mal ein KI-Jünger von künftigen Roboter-Generationen, die so intelligent seien, dass sie Artenschutz verdienten. Oder ein Aufklärer, der in einem Internet-Artikel in die KI einwies und nicht von „künstlicher Intelligenz“, sondern gleich von Selbstbewusstsein sprach. Brrr …

Ein eher harmloses Beispiel für die unverzichtbare KI ist das Programm Luminar 4, das zur Zeit intensiv beworben wird. Es handelt sich um eine Bildbearbeitung, deren „intelligente“ Algorithmen (lauter AI-Werkzeuge) bei vielen Fotografen Begeisterung auslösen. Alles automatisch: aus einem etwas schiefen Pickelgesicht mit zu kleinem Mund wird mit wenigen Klicks eine Schönheit mit blendend weißen Zähnen und einer Haut ohne Makel, Pupillen, die von strahlendem Weiß umgeben sind usw. Also das komplette Retuscheprogramm mit kaum mehr als einem einzigen Handgriff. Äußerst leistungsfähig, perfekte Schönheit bei einem gegen Null tendierenden Wiedererkennungswert. Von dem ursprünglichen markanten, charaktervollen Gesicht bleibt ein poliertes Puppengesicht übrig. Das kann KI, keine Frage.

KI ist natürlich nicht verantwortlich für einen üblen fotografischen Trend, und alle dazu erforderlichen Routinen, auch die automatischen, lassen sich genau so gut ohne KI, also mit starrer Algorithmik erzielen. Ja ich bin nicht mal sicher, dass sich bei Luminar 4 hinter den mit AI (artificial intelligence) gekennzeichneten Funktionen wirklich flexible Algorithmik verbirgt, doch hier wird sehr anschaulich die Erwartungshaltung gegenüber KI deutlich. „Ja, wenn das denn mit intelligenten Methoden gemacht wird, dann muss es ja gut werden.“ Um etwas zu verkaufen, muss es nicht wirklich gut sein, sondern der Käufer muss es für gut halten.

Und so wie KI Gesichter glattbügeln kann, so kann sie auch Charaktermerkmale, Haltungen, Meinungen, das Kauf- und Wahlverhalten usw. glattbügeln, also gleichschalten. Doch Persönlichkeiten mit individueller Prägung erfordern Menschen als Partner, keine Algorithmen. Deshalb noch einmal: Finger weg von Menschen, die sind zu wertvoll, um von Algorithmen durch Schablonen gepresst zu werden. Hier scheint das Attribut „künstliche Intelligenz“ als Legitimation für Manipulation missverstanden zu werden. Sind ja intelligent, diese Algorithmen, folglich dürfen sie Menschen an die Hand nehmen und – natürlich zu ihrem Vorteil – hierhin und dorthin führen.

Und so wird KI zu einer Triebfeder. Muss ja sein, vor allem in Deutschland, wo man erkannt hat, dass man zumindest auf dem technologisch-wirtschaftlichen Schlachtfeld zur Großmacht aufsteigen kann. Klar, selbstverständlich nur, um sich gegenüber anderen Nationen behaupten zu können, vor allem aber, weil Digitalisierung und KI die Welt verbessern werden. Dennoch: eine Welt, in der ich nicht wirklich leben möchte. Vielleicht, weil sie zu perfekt für mich sein wird? Weil ich echtes Leben mit der ständigen Auseinandersetzung mit der Unvollkommenheit verbinde? Unvollkommenheit, die kaum mit KI in Verbindung gebracht werden kann? Die Perfektion, die man mit KI anstrebt, ist im Grunde einfach nur verdammt unmenschlich.

 

Allmählich is gut, Herr Klinner

Seit langem schon bin ich interessierter Zuschauer der Nachmittagssendung „Heute in Europa“. Nicht täglich, nein, dazu habe ich meist keine Zeit, aber so zweimal, dreimal die Woche. Der Blick über den deutschen Tellerrand, das Engangement für Europa, das sind für mich schon überzeugende Gründe, den Fernseher gegen 16:00 Uhr einzuschalten. Außerdem sind einem die Moderatoren sehr vertraut: Jasmin Hekmati, Julia Theres Held oder auch Andreas Klinner. Sie alle geben der Sendung eine persönliche Note, z.B. der Klinner, der zu Beginn immer ein Hauptthema ankündigt und dann noch auf weitere Themen mit „… und außerdem  …“ hinweist.

So sympathisch der persönliche Anstrich durch die jeweiligen Moderatoren auch rüberkommt, zumindest grundsätzlich, so ist die eine oder andere Vorliebe doch eher unangenehm. So zum Beispiel Klinners Anhimmeln der skandinavischen bzw. baltischen Lebensart, wenn’s um digitale Lebensgestaltung geht. Zweimal schon habe ich mitbekommen, wie er Estland als digitales Schlaraffenland geradezu anpries. Für mich war’s schwer zu ertragen, denn genau so möchte ich nicht leben.

Und ich wünsche mir, dass die Verhältnisse nicht nach Deutschland überschwappen. Nur ein Beispiel: Klinner lobte die geradezu paradiesischen Zustände in estländischen Schulen, wo schon jeder Grundschüler Zugang zu einem 3D-Drucker habe. Mein Gott, Herr Klinner, ein 3D-Drucker ist ziemlich das Letzte, was ein Schüler braucht, um zu gestalten oder Formen zu erfassen. Schere, Papier, Klebstoff usw. sind um Größenordnungen wichtiger und auch bildungswirksamer als ein digitales Hightech-Gerät. Und auch das gezeigte Lernen an einzelnen Terminals darf nur eine Ergänzung sein; viel wichtiger ist das Lernen in Gruppen. Nicht Isolierung, sondern Gemeinschaft. Ja, und gerade, was das soziale Gefüge angeht, gibt es in Estland erhebliche Defizite. Aus historischer Sicht verständlich, aber dennoch nur bedingt als Vorbild geeignet.

Heute nun ein weiteres Highlight von Klinner. Er kündigte Finnland als möglicherweise nachahmenswertes Land an, wenn’s um moderne Lebensformen geht. Finnland – ja, ich mag das Land und habe Helsinki als überaus freundlichen Ort kennengelernt. Das war allerdings noch zu analogen Zeiten. Egal, ich konnte mir denken, welchen Schwerpunkt Andreas Klinner setzen würde, und ging hinaus, bevor der Beitrag begann. Etwas später schaute ich noch einmal kurz durch die Tür und sah genau das, was ich erwartete: ein Smartphone, mit dem offenbar irgendwas im Haushalt gesteuert wurde. Ich schlug die Tür wieder zu, ganz schnell.

Sorry, ich kann sie nicht mehr ertragen, diese völlig blinde Digitalgläubigkeit, diese passive Gleichgültigkeit, mit der sich die Menschen in ein digitales Datengeflecht eingliedern lassen. Mir kommt es vor, als würde bei den meisten Zeitgenossen der nüchterne Menschenverstand, der durchaus ein guter Maßstab für die Abwägung zwischen gut und schlecht sein kann, im digitalen Strudel kurzerhand ausgeschaltet.

Ja, digital kann gut sein (wenn’s gut gemacht ist), ist aber auf keinen Fall schon deshalb gut, weil’s digital ist. So einfach ist die Angelegenheit. Und: Diejenigen, die die gravierenden Nachteile der Digitalsierung einfach ignorieren, die machen es schlecht. Definitiv. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschheit irgendwann begreift, dass das Internet, wenn man es falsch anpackt, mehr Schaden anrichtet als Nutzen bietet. Es gibt erste Anzeichen, dass einige Leute im Begriff sind zu kapieren. Doch je länger wir das Internet unkontrolliert wüten lassen, desto schwieriger wird es sein, die Schäden wieder auszubügeln. Denn die Wunden, die durch

  • Verrohung der Gesellschaft durch Hassplattformen,
  • Realitätsverlust durch Fake-News,
  • Manipulationen durch Informationsblasen,
  • sexuelle Versumpfung,
  • kriminelle Durchdringung der Gesellschaft,
  • Verlust von persönlicher Kontaktnähe,
  • Verlust von Verantwortungsbereitschaft und Urteilsfähigkeit,
  • Gefährdung durch Hacker-Angriffe,
  • Gaffer-Fotografie und -Videofilmerei,
  • kaum bremsbare Verbreitung von kinderpornografischem Material,
  • kriminelle, extremistische und terroristische Zusammenrottungen,
  • bedenkliche Vorbilder in Youtube-Kanälen,
  • unkontrollierbare Datensammlungen und Verhaltensanalysen

entstehen, heilen nicht so schnell – wenn überhaupt. Und machen wir uns nichts vor, all diese gravierenden Negativerscheinungen sind kein unabwendbares Schicksal, sondern die Folge eines falschen Umgangs mit dem Internet. Das Internet selbst macht die Welt nicht kaputt, wohl aber die total falsche Gestaltung des Netzes, die Überbewertung seines Nutzens, das gedankenlose Herumreiten auf dem Hype der absoluten Digitalisierung. Und allen, die auf die enormen Chancen der Vernetzung hinweisen, sei gesagt: Ja, die gibt es, diese Chancen – wenn man sie richtig nutzt. Davon sind wir zur Zeit noch Lichtjahre entfernt. Und ob wir die Chancen bei diesem blinden Vorpreschen überhaupt irgendwann mal nutzen können, ist keineswegs sicher. Auf jeden Fall wird die Müllhalde, auf der wir den durchs Internet erzeugten Mist entsorgen müssen, gigantisch groß werden. Auch gewaltiger Sperrmüll wird anfallen, z.B. in Form von falsch konzipierten Plattformen wie Facebook, die einfach abgeschaltet gehören, damit saubere Plattformen eine Chance bekommen.

Mein Gott, nach dem Debakel mit der Kernenergie, nach dem Verkehrschaos mit seinen schlimmen Auswirkungen auf das Klima, nach dem Einsetzen der Massenproduktions-Orgien sollten wir doch gelernt haben, dass man technische Entwicklungen nicht wie ein Naturgesetz über sich ergehen lassen darf. Das gilt auch für die Digitalsierung. Die Menschheit muss noch lernen, Zukunft nicht nur zu prognostizieren, sondern zu gestalten. Und je mächtiger die Gestaltungsmöglichkeiten sind, desto wichtiger ist kontrolliertes Vorgehen mit klaren Zielvorgaben. Nicht Digitalisierung ist das Ziel (wie absurd, dieser Gedanke), sondern das, was wir damit ganz konkret erreichen wollen. Und wenn es in eine falsche Richtung geht, dann bleibt doch nur eines: anhalten, sich orientieren und das weitere Vorgehen erneut planen. So abwegig?